10.03.2022 Ausgabe: 2/22

Belastung oder Chance? - Die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen

Schwerbehinderte Arbeitskräfte werden in Unternehmen oft als potenziell leistungsschwach angesehen und als Belastung wahrgenommen. Größere Fürsorgepflichten des Arbeitgebers, kombiniert mit der gesetzlichen Vorschrift etwa eines erhöhten Kündigungsschutzes und zusätzlicher Urlaubstage, sorgen dafür, dass sie als potenzielle Mitarbeiter auf den ersten Blick eher unattraktiv erscheinen. Dem erhöhten gesetzlichen Schutz stehen jedoch umfassende staatliche Förderungsinstrumente gegenüber, die auch von Arbeitgebern beantragt und genutzt werden können. Birgt die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen wirklich Risiken? Welche Verpflichtungen haben Arbeitgeber ihnen gegenüber? Und welche Vorteile bringt die Beschäftigung Schwerbehinderter mit sich?


Die Pflicht zur Beschäftigung Schwerbehinderter
Nach § 154 Abs. 1 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) ist jeder Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich mindestens 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens fünf Prozent dieser Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Wird diese Quote nicht erreicht, muss eine Ausgleichsabgabe an das Integrationsamt (in einigen Bundesländern Inklusionsamt genannt) entrichtet werden, deren Höhe (Stand 2021) zwischen 140 und 360 Euro monatlich für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz beträgt. Arbeitgeber können sich also von der Verpflichtung „freikaufen“. Mit der Ausgleichsabgabe werden Projekte unterstützt, die sich für die Teilhabe Schwerbehinderter am Arbeitsleben einsetzen; sie ist also keine „Strafe“, sondern gerechter Ausgleich gegenüber denjenigen Arbeitgebern, die in ausreichendem Umfang behinderte Personen beschäftigen.


Was Stellenausschreibung und - besetzung erfordern
Nach § 164 Abs. 1 SGB X müssen Arbeitgeber prüfen, ob ein freier Arbeitsplatz mit einer schwerbehinderten Person besetzt werden kann, wobei – soweit vorhanden – die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen und der Betriebsrat anzuhören ist. Diese Pflicht gilt für alle Arbeitgeber und ist daher selbst dann zu beachten, wenn keine Beschäftigungspflicht nach § 154 Abs. 1 SGB IX besteht.

Steht ein Arbeitsplatz auch schwerbehinderten Bewerbern offen, was bei Bürotätigkeiten im Bereich der Immobilienverwaltung regelmäßig der Fall sein dürfte, ist frühzeitig Kontakt mit der Arbeitsagentur aufzunehmen, damit diese geeignete Bewerber vorschlagen kann. Arbeitgeber müssen sicherstellen, dass bei der Arbeitsagentur tatsächlich ein Vermittlungsauftrag ausgelöst wird, und sie können hierfür entweder ihre Betreuungsperson bei der Arbeitsagentur informieren oder das Online-Portal nutzen. Nicht ausreichend ist es, das Stellenangebot lediglich in die Online-Jobbörse der Arbeitsagentur einzustellen. Die Missachtung dieser Obliegenheit kann nicht nur das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrates nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) auf den Plan rufen, sondern auch zu Schadensersatzansprüchen wegen Diskriminierung später abgelehnter Bewerber führen: Verstöße gegen den besonderen Schwerbehindertenschutz des SGB IX sind nämlich als Indizien im Sinne von § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu werten.

Um sich nicht dem Vorwurf der Diskriminierung auszusetzen, sollte die Stellenausschreibung möglichst neutral gehalten werden. Die Formulierung von Anforderungen an Bewerber wie „volle körperliche Belastbarkeit“ ist zu vermeiden. Gehen Bewerbungen oder Vermittlungsvorschläge ein und gibt es im Unternehmen eine Schwerbehindertenvertretung und/oder einen Betriebsrat, so sind diese darüber zu unterrichten und anzuhören. Erfüllt der Arbeitgeber seine Beschäftigungspflicht nicht und besteht mit der beabsichtigten Entscheidung kein Einverständnis, ist dies unter Darlegung der Gründe mit ihnen zu erörtern, wobei auch sich Bewerbende anzuhören sind. Alle Beteiligten sind vom Arbeitgeber – unabhängig davon, ob dieser die Beschäftigungspflicht erfüllt oder nicht – über die sodann getroffene Entscheidung unter Darlegung der Gründe unverzüglich zu informieren.


Die behinderungsgerechte Beschäftigung
Schwerbehinderte Mitarbeiter können gemäß § 164 Abs. 4 SGB IX vom Arbeitgeber eine auf ihre Behinderung angepasste Beschäftigung verlangen, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können (behinderungsgerechte Beschäftigung). Können Mitarbeiter die vertraglich geschuldeten Tätigkeiten wegen der Behinderung nicht mehr ausführen, führt dies grundsätzlich nicht zum Wegfall des Beschäftigungsanspruchs, sondern zunächst zu einem Anspruch auf eine behindertengerechte vertragsgemäße Beschäftigung.

Im einfachsten Fall bedeutet dies, dass Beschäftigten lediglich die zur Verrichtung ihrer Tätigkeit erforderlichen Arbeitshilfen zur Verfügung zu stellen sind, etwa ein angepasster PC für stark Sehbehinderte oder Blinde. Auch die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in Teilzeit kommt in Betracht.

Gegebenenfalls sind Arbeitgeber auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsumgebung oder der Arbeitsorganisation verpflichtet. Dies bedeutet, dass die Arbeitsstätte an sich „barrierefrei“ einzurichten ist (z. B. durch Einbau eines Treppenlifts), oder dass der Schichtplan unter Berücksichtigung der Belange der schwerbehinderten Kraft neu zu gestalten ist.

Ist eine Weiterbeschäftigung auf dem bisherigen Arbeitsplatz nicht möglich, haben Mitarbeiter Anspruch auf einen freien geeigneten Arbeitsplatz, auch wenn dieser nicht der arbeitsvertraglich vorgesehenen Tätigkeit entspricht. Im Einzelfall kann dies auch bedeuten, dass eine Versetzungerfolgen muss, um eine geeignete Stelle frei zu machen. Ein Anspruch auf die „Freikündigung“ eines Arbeitsplatzes besteht aber nur unter strengen Voraussetzungen.

Aus der Pflicht zur behinderungsgerechten Beschäftigung kann sich auch ein Anspruch auf Arbeit im Homeoffice ergeben, wenn die betriebliche Arbeitsstätte dies nicht hergibt, die Tätigkeit aber sehr wohl zu Hause ausgeübt werden kann.

Im Übrigen steht Schwerbehinderten ein Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen pro Jahr zu, wobei abweichend von § 3 des Bundesurlaubsgesetzes von einer Fünftagewoche auszugehen ist. Angeordnete Mehrarbeit dürfen sie ablehnen, wenn diese über die gesetzliche Arbeitszeit von täglich acht Stunden hinausgeht.


Staatliche Leistungen für Arbeitgeber
Der Staat möchte die Eingliederung und Teilhabe Schwerbehinderter am Arbeitsleben fördern und gewährt hierfür umfangreiche Leistungen zugunsten von Arbeitgebern, die solche Mitarbeiter beschäftigen oder beschäftigen möchten. Das beginnt schon bei der Schaffung neuer Arbeits- und Ausbildungsplätze für Schwerbehinderte, für die das Integrationsamt regelmäßig Zuschüsse oder Darlehen zu den Investitionskosten gewährt.

Die Ausbildung Schwerbehinderter wird – wenn die Ausbildung behinderungsbedingt sonst nicht absolviert werden kann – regelmäßig mit 80 Prozent der im letzten Jahr zu zahlenden monatlichen Ausbildungsvergütung bezuschusst. Werden Auszubildende übernommen, kann im ersten Beschäftigungsjahr ein Eingliederungszuschuss von 70 Prozent des Arbeitsentgelts erbracht werden.

Ähnliches gilt für die direkte Anstellung Behinderter, wenn sie zur Eingliederung einer besonderen Einarbeitung bedürfen. Auch hier beträgt der Eingliederungszuschuss bis zu 70 Prozent des Arbeitsentgelts und wird für die Dauer von bis zu zwei Jahren gewährt – bei Vermittlungserschwernissen auch deutlich länger. Die Höhe des Zuschusses wird nach Ablauf von zwölf Monaten um zehn Prozent gesenkt und so dem abnehmenden Förderungsbedarf bzw. der Zunahme der Leistungsfähigkeit des oder der Beschäftigten angepasst. Er ist teilweise zurückzuzahlen, wenn das Arbeitsverhältnis aus vom Arbeitgeber zu vertretenden Gründen endet.

Zuschüsse bis zur vollen Höhe der entstehenden Kosten können für die barrierefreie Aus- oder Umgestaltung eines Arbeitsplatzes gewährt werden. Selbstverständlich gilt dies auch, wenn Mitarbeiter im Rahmen eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses erkranken oder verunfallen und als Folge eine Behinderung aufweisen. Gefördert wird u. a. auch die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen für Schwerbehinderte.


Die Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters
Da der Beschäftigungsanspruch eines Schwerbehinderten stets unter dem Vorbehalt steht, dass die hierfür erforderlichen Maßnahmen für den Arbeitgeber zumutbar und verhältnismäßig sind, ist eine Kündigung aufgrund der behinderungsbedingten Beeinträchtigungen zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Die Grenze des Zumutbaren ist beispielsweise dann erreicht, wenn eine Weiterbeschäftigung des Betreffenden allen Grenzen wirtschaftlicher Vernunft widerspricht, insbesondere dem Arbeitgeber einseitig die Lohnzahlungspflicht auferlegen würde, etwa bei häufigen Kurzerkrankungen.

Kündigungen Schwerbehinderter bedürfen nach Ablauf von sechs Monaten des Bestehens des Arbeitsverhältnisses der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes (§§ 168, 174 SGB IX) sowie – wenn vorhanden – der Schwerbehindertenvertretung (§ 178 Abs. 2 SGB IX) und müssen innerhalb der gesetzlichen Frist nach Zustimmung des Integrationsamtes erklärt werden. Dies gilt sowohl für ordentliche als auch für außerordentliche Kündigungen, selbst wenn die Kündigungsgründe nicht mit der Behinderung in Zusammenhang stehen.

Vor der Erwägung einer Kündigung sollten – unter Mitwirkung des Integrationsamtes und gegebenenfalls der Schwerbehindertenvertretung bzw. im Rahmen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements – unbedingt sämtliche infrage kommenden Beschäftigungs- und Besserungsmöglichkeiten ausgelotet werden. Dies schon aus dem Grund, dass die fehlende Beschäftigungsmöglichkeit in einem späteren Kündigungsschutzprozess vom Arbeitgeber dargelegt und bewiesen werden muss.

FAZIT
Die Beschäftigung Schwerbehinderter bringt freilich umfassende Rücksichtnahmepflichten und manchmal auch Härten mit sich. Es ist jedoch anzuerkennen, dass staatlicherseits ein umfassender Katalog an Förderungsmöglichkeiten geschaffen wurde, der eventuelle behinderungsbedingte Leistungsdefizite durchaus ausgleichen kann. Zudem sind Behinderte durch den Gedanken, sich etwas beweisen zu wollen, in der Regel vergleichsweise stark motiviert und engagiert.
 

Matthias Wißmach, Tobias Schwartz,

TOBIAS SCHWARTZ
Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht, Geschäftsführer der LKC Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, München-Bogenhausen

MATTHIAS WIßMACH
Rechtsanwalt in derselben Kanzlei www.lkc-recht.de