20.07.2017 Ausgabe: 5/2017

Nachwuchssorgen?

Für Unternehmen wird es schwieriger, den Fachkräftebedarf zu decken. Jetzt liegen die Ergebnisse eines Modellprogramms vor, das Wege aufzeigt, wie dem Problem zu begegnen ist.

Der demografische Wandel und die Akademisierung führen dazu, dass die Zahl der Bewerbungen um Ausbildungsplätze in Deutschland kontinuierlich sinkt. Zugleich müssen Ausbilderinnen und Ausbilder einer immer vielfältigeren Zielgruppe junger Menschen angemessen und zielorientiert begegnen – dies vor allem hinsichtlich der Vorbildung und der verschiedenen kulturellen Voraussetzungen.

Auch in der Altersstruktur, dem Einsatz digitaler Medien und den Familienstrukturen gibt es immer mehr Unterschiede. Der schon spürbare Fachkräftemangel macht es notwendig, das Bewerberpotenzial zu erweitern. Jugendliche, die bisher von Unternehmen gar nicht in Betracht gezogen wurden, müssen stärker berücksichtigt werden. Ausbildungsbetriebe brauchen jedoch gezielte Angebote, um dies zu ­meistern.

Welche, das zeigt das umfassende Modellversuchsprogramm „Neue Wege in die duale Ausbildung – Heterogenität als Chance für die Fachkräftesicherung“ des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) auf. Es wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Von 2011 bis 2015 wurden von Praxis, Wissenschaft und Politik in 17 Modellversuchen Konzepte, Handlungsansätze und Instrumente erarbeitet und verbreitet. Dazu gehörten u. a. Kooperationen zur Azubi-Gewinnung, Maßnahmen zur Berufsorientierung oder zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen. Die Betriebe wurden von Beginn an in die Arbeit einbezogen, um die Kompetenz des Ausbildungspersonals gezielt einzubinden und zu nutzen.

Neue Wege in die duale Ausbildung

Einen Überblick über die im Modellprogramm erarbeiteten Angebote bietet die Broschüre „Fachkräftesicherung durch Vielfalt“ mit praktischen Anregungen für die Umsetzung im eigenen Betrieb. Sie ist online kostenlos abrufbar: https://www2.bibb.de/bibbtools/de/ssl/4928.phphttp://www2.bibb.de/bibbtools/de/ssl/4928.php

Ziel des Programms war es, den Unterstützungsbedarf von Unternehmen in der Berufsbildung regional, branchenspezifisch und nach ausgewählten Aspekten zu ermitteln und geeignete neue Konzepte zu entwickeln. Dazu einige Beispiele:

Ausbildungsorientierte Alphabetisierung

16 Prozent der 15-Jährigen haben laut der aktuellsten PISA-Studie Probleme beim Lesen und Schreiben. Unternehmen können es sich aber heute nicht mehr leisten, sie von vornherein als Bewerber nicht zu berücksichtigen. Viele dieser Jugendlichen könnten bei entsprechender Förderung und Begleitung eine Ausbildung meistern. Beim Modellprojekt des Forschungsinstituts Betriebliche Bildung wurden für die Berufsbildung Verantwortliche in Bayern im Umgang mit Sprachschwächen und funktionalem Analphabetismus geschult, damit sie sich in den Ausbildungsbetrieben dieses Problems stärker annehmen können. Im Vordergrund stand die Früherkennung von Schreibdefiziten, etwa durch Schriftproben, sodass Jugendliche mit Schwächen gezielt gefördert werden können – z. B. durch Gruppenarbeiten entsprechend dem jeweiligen Lese- und Schreibniveau oder das Erstellen von selbsterklärenden Arbeitsmaterialien. Wichtig bei der ausbildungsorientierten Alphabetisierung: Betroffene sollen auf keinen Fall bloßgestellt werden.

Tipp:  Aufgaben zum Testen von Lese- und Schreibfähigkeiten gibt es beispielsweise auf: www.grundbildung-und-beruf.info

Unternehmen agieren gemeinsam

In Westmecklenburg wurden die Bewerber in den vergangenen Jahren knapper, die Zahl der Schulabgänger ging zurück. Das Schweriner Ausbildungszentrum erarbeitete daher mit Unternehmen im Industriegebiet Schwerin-Sacktannen/Wittenförden ein Angebotspaket, das sowohl den Betrieben bei der Azubi-Suche als auch Jugendlichen bei der Berufswahl helfen sollte. Es umfasste Aktionstage und weitere berufsberatende Maßnahmen, etwa Betriebsbesichtigungen oder Potenzialanalysen. Gleichzeitig wurden 122 Unternehmen dahingehend beraten, Schülerpraktika durchzuführen, zudem bei der Optimierung ihrer Auswahlverfahren unterstützt.

Fachkräftemangel – was ist dran?

Dass Unternehmen in Deutschland händeringend nach Fachkräften suchen, ist bekannt. Die Bundesagentur für Arbeit aber sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland, lediglich Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern, z. B. in der Kraftfahrzeugtechnik oder der Softwareentwicklung, sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen.

Weniger Ausbildungsverträge
Bei der Ausbildungsstatistik wird’s kompliziert: Laut Berufsbildungsbericht 2016 stieg die Zahl der nicht besetzten Lehrstellen in den Jahren 2011 bis 2015 von 11 344 auf über 20 000, gleichzeitig aber auch die der vergeblich Suchenden – von 26 689 auf 40 960. Rechnet man Jugendliche in Weiterbildungen oder Fördermaßnahmen hinzu, waren es 2015 sogar fast 81 000, die leer ausgingen. Es können also viele Unternehmen ihre Lehrstellen nicht besetzen, während Zehntausende eine suchen.

Ungleichgewichte machen Probleme
Die Berufsbildungsforschung hat dafür zwei Erklärungen: regionale und berufliche Ungleichgewichte. Ein regionales Ungleichgewicht besteht dann, wenn z. B. in Süddeutschland viele Betriebe ihre Stellen nicht besetzen können, während in anderen Regionen viele keine Lehrstelle finden. Um berufliche Ungleichgewichte handelt es sich, wenn die Ausbildung in bestimmten Berufen stark nachgefragt wird, in anderen aber deutlich weniger – obwohl gerade diese Berufe dringend Nachwuchs brauchen. Deutschlandweit ist die Kluft zwischen den Berufen sehr groß: Köche, Gebäudereiniger, Bäcker, Klempner, Fleischer und Restaurantfachleute werden oft verzweifelt gesucht. Gleichzeitig reicht die Zahl der Ausbildungsplätze für Bewerber, die Tierpfleger, Mediengestalter, Verwaltungskaufleute, Informationselektroniker oder Fotografen werden wollen, nicht aus.

Blick in die Zukunft
Das Bundesinstitut für Berufsbildung prognostiziert, dass Fachkräfte in Zukunft knapper werden und es zu mehr Engpässen kommen wird. Das liegt vor allem am demografischen Wandel: Trotz der zurzeit hohen Zuwanderung gehen die Forscher davon aus, dass die Bevölkerung in Deutschland ab 2025 schrumpfen wird.

Tipp: Maßnahmen wie Standort-Aktionstage lassen sich gut auch in anderen Regionen umsetzen – Voraussetzung ist die Bereitschaft der Unternehmen, sich mit anderen zu vernetzen.

Ausbildungsabbrüche reduzieren

Vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen führen kurze Auswahlverwahren und die begrenzte Aussagekraft von Bewerbungsunterlagen oft dazu, dass Stellen entweder gar nicht oder unpassend besetzt – und Ausbildungen frühzeitig abgebrochen werden. Dieser Problematik nahm sich der Verein für allgemeine und berufliche Weiterbildung in Alsdorf bei Aachen mit den Modellversuch „AnHand – Ausbildungsnetzwerk handgemacht“ an, indem er Betriebe dabei unterstützte, geeignet erscheinende Bewerber in einem zweitägigen Kompetenzfeststellungsverfahren gründlicher zu testen und auf dieser Basis eine Auswahl für einen Praxistag zu treffen. Entwickelt wurde auch ein die Ausbildung begleitender Feedback-Bogen: Die regelmäßige Abfrage u. a. von Motivation, Konflikten mit Kollegen, Leistungen in Schule und Betrieb bei den Auszubildenden wie auch beim Ausbildungspersonal soll entstehende, die Ausbildung gefährdende Probleme rechtzeitig aufzeigen. Von dem Projekt profitierten auch Jugendliche, die ansonsten keine Chance auf eine Ausbildung gehabt hätten: Immerhin 25 wurden erfolgreich vermittelt.

Tipp: Informationen zum Kompetenzfeststellungsverfahren und der Feedback-Bogen finden sich online: www.foraus.de, Suchbegriff ­„Ausbildungsnetzwerk handgemacht“

Frühzeitige Berufsorientierung

Im brandenburgischen Finsterwalde arbeitete die als integrierte Gesamtschule ohne Gymnasialzweig gestaltete Oberschule mit lokalen Unternehmen im Projekt „Ausbildungs-Navigator“ zusammen. Das Besondere: Berufsorientierung beginnt hier bereits in der siebten Klasse. Betrieben war es zuvor nicht gelungen, mit erst ein halbes Jahr vor dem Schulabschluss bereitgestellten Informationsangeboten genügend Azubis für sich zu gewinnen. Unter anderem vermittelt eine Schüler-AG in der achten Klasse über einen Zeitraum von elf Wochen praktische Berufsorientierung in den Bereichen Metall, Holz, Kunst und Kreativität, Farbe, Hauswirtschaft und Mediengestaltung – wobei diese Bereiche jederzeit gewechselt werden können. In der neunten Klasse folgen Kurzpraktika sowie ein verpflichtendes dreiwöchiges Betriebspraktikum. Unterstützung finden Schule und Unternehmen beim Träger des Projektes, der Entwicklungsgesellschaft Energiepark Lausitz.

Tipp: Berufswahl ist ein langer Prozess. Es lohnt sich daher, einen langfristig ausgerichteten Kontakt zu den Schulen aufzubauen und sich für Schülerpraktika zu öffnen.

Einstiegshürden verringern

Da Pflegeberufe bekanntlich unter Nachwuchsmangel leiden, startete die Arbeiterwohlfahrt im Saarland das Programm „Chance Pflegeberuf“. Am Altenpflegeberuf interessierten Jugendlichen ohne die für die Ausbildung erforderlichen Kompetenzen ­wurden in einem Vorbereitungsjahr Stück für Stück theoretische und praktische Kenntnisse vermittelt, um sie an das für die Ausbildung erforderliche Niveau heranzuführen – sozialpädagogische Begleitung und Prüfungen inklusive. Das Erlernte wandten sie in einem Seniorenzentrum praktisch an. Erfolg: Mehr als die Hälfte wurde nach Ablauf des Jahres in eine Ausbildung übernommen.
 
Tipp: Eigene betriebliche Vollzeit-Einstiegsqualifizierungen für noch nicht ausbildungsreife Jugendliche können sinnvoll sein. Es bietet sich für den theoretischen Teil die Zusammenarbeit mit einer Berufsschule an; wichtig ist zudem, die Teilnehmer Berichtshefte führen zu lassen und ihnen Zwischen- und Abschlusszeugnisse auszustellen.

Fazit und Ausblick

Insgesamt haben die Modellversuche einen wichtigen Beitrag geleistet, um aus der Praxis konkrete Hilfe für den praktischen Umgang mit Heterogenität und Vielfalt zu bieten. Die neuen Instrumente, Konzepte und Handlungsansätze werden dem Ausbildungspersonal durch Publikationen, in Veranstaltungen und Netzwerken weiterhin vorgestellt. Vielfalt als Chance bedeutet, neue Potenziale der jungen Menschen und ebenso der Unternehmen zu erkennen und auszuschöpfen. Nur so wird es langfristig möglich sein, den Fachkräftebedarf zu decken.

Foto: © mrfiza / Shutterstock.com


Westhoff, Gisela

GISELA WESTHOFF
Die wissenschaftliche Direktorin (bis 2015) leitete das Modellprogramm „Neue Wege/Heterogenität“ und ist jetzt aktiv im Berufsausbilderverband NRW aktiv.

PROF. DR. HELMUT ERNST
Der Dozent für Pädagogik an der Hochschule Wismar begleitete das Programm wissenschaftlich.