02.05.2019 Ausgabe: 3/19

Nur zum Schein? Wenn freie Mitarbeiter gar nicht wirklich selbstständig sind. Aktuelle Fälle zeigen, dass die Problematik vielfach unterschätzt wird.

Zollbehörden, Sozialversicherungsträger, aber auch Staatsanwaltschaften schauen wieder genauer hin, wenn es um die Problematik der Scheinselbstständigkeit geht. Für Unternehmer ist es entscheidend, sich rechtzeitig mit der Frage zu befassen, ob beauftragte Selbstständige wirklich frei arbeiten. Sonst drohen harte Strafen und hohe Nachzahlungen. Drei „prominente“ Fälle aus den letzten Jahren zeigen, welche unerwarteten Konsequenzen es haben kann, wenn Arbeitgeber hier nicht genau aufpassen.


Erster Fall: Vor der Wirtschaftsstrafkammer des LG Augsburg standen im Jahr 2015 vier Verantwortliche eines großen Möbel­einzelhandelsunternehmens. Ihnen wurde vorgeworfen, Sozialbeiträge in Höhe von rund 1,7 Mio. Euro vorenthalten zu haben. Sie sollen 47 Mitarbeiter über mehr als 13 Jahre als freie Mitarbeiter oder Subunternehmer beschäftigt haben, obwohl diese nach Ansicht der Staatsanwaltschaft abhängig beschäftigt waren. Zwar entpuppten sich einige Fälle tatsächlich als freie Mitarbeit, dennoch wurden die Geschäftsführer zu Bewährungsstrafen von elf bzw. 22 Monaten und Bewährungsauflagen in sechs- bzw. siebenstelliger Höhe verurteilt, die beiden Personalmanager zu Geldstrafen in mittlerer fünfstelliger Höhe.


Zweiter Fall: Die Bundestagsverwaltung hatte Besucherführer als freie Mitarbeiter beschäftigt. 1,45 Mio. Euro forderte die Deutsche Rentenversicherung, weil in 43 Fällen keine entsprechenden Abgaben gezahlt worden waren.
Dritter Fall: Zu 16 Monaten Haft auf Bewährung und einer Bewährungsauflage von 120.000 Euro wurde ein früherer Fraktionschef der CSU im Bayerischen Landtag verurteilt, weil er seine Frau mehr als 20 Jahre lang als Scheinselbstständige beschäftigt hatte.
Diese Fälle zeigen, dass nicht nur hohe Nachzahlungen an die Sozialversicherungsträger drohen, sondern dass oft auch durch die Staatsanwaltschaften geprüft wird, ob Sozialbeiträge vorsätzlich nicht abgeführt wurden. Dann drohen nach § 266a StGB auch Geld- oder sogar Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren.

Harte Konsequenzen

Hat der Auftraggeber nach Ansicht des prüfenden Sozialversicherungsträgers zu Unrecht keine Sozialabgaben abgeführt, muss er in aller Regel den Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag (rund 40 Prozent) nebst Umlagen nachzahlen. Ist Vorsatz anzunehmen – und hier reicht sogenannter bedingter Vorsatz aus –, sind die Sozialversicherungsträger sogar berechtigt, eine sogenannte Nettolohnhochrechnung vorzunehmen (vgl. § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IV). Das bedeutet, dass man von dem an den Auftragnehmer exklusive Umsatzsteuer bezahlten Honorar als Nettolohn ausgeht und nach einem Abtastverfahren – im „worst case“ unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse 6 – einen fiktiven Bruttolohn errechnet, der dann wiederum grundsätzliche Bemessungsgrundlage für die festzusetzenden Sozialversicherungsbeiträge ist. Ein an den Scheinselbstständigen entrichtetes Honorar von bspw. 2.500 Euro pro Monat zzgl. Umsatzsteuer führt hiernach zu einem fiktiven Bruttolohn von gut 5.000 Euro; was – hochgerechnet auf ein Jahr – einen Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 23.000 Euro auslöst! Bei Vorsatz verlängert sich ferner die sozialversicherungsrechtliche Verjährungsfrist von vier auf 30 Jahre; zudem fallen Säumniszuschläge von einem Prozent pro Monat (!) an. Auch überwiegend nicht bekannt: Erleidet ein Scheinselbstständiger einen Arbeits- oder Wegeunfall, muss zwar die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften) eintreten. Hat der Auftraggeber den Auftragnehmer aber vorsätzlich nicht zur Sozialversicherung angemeldet, kann die Berufsgenossenschaft den Auftraggeber nach § 110 Abs. 1a SGB VII in vollem Umfang der erbrachten Leistungen in Regress nehmen. Bei einem schweren Unfall des Auftragnehmers kann das für den ­Auftraggeber existenzgefährdend sein.
Wie hart die Konsequenzen der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen sind, ist vielfach nicht bekannt. Das böse Erwachen folgt – wie in den oben geschilderten Fällen – meist erst nach vielen Jahren. Besonders teuer wird Scheinselbstständigkeit für Arbeitgeber auch deshalb, weil die Arbeitnehmerbeitragsanteile so gut wie nie nachträglich auf Arbeitnehmer abwälzbar sind. In hemdsärmelig gestalteten „Freie-Mitarbeiter-Verträgen“ sieht man zwar oft den Passus, dass im Falle der Inanspruchnahme des Auftraggebers mit Sozialversicherungsbeiträgen dieser berechtigt sein soll, den Arbeitnehmeranteil vom Auftragnehmer erstattet zu verlangen – diese Vereinbarung ist aber nach § 32 SGB I nichtig.

Darauf ist zu achten

Man kann nicht pauschal und allein nach der ausgeübten Tätigkeit beurteilen, wer freier Mitarbeiter und wer Scheinselbstständig ist. Es bedarf immer einer individuellen Einzelfallprüfung, die sämtliche Umstände des Falles würdigt. Zu berücksichtigen sind beispielsweise immer auch der Grad der Weisungsabhängigkeit und die Eingliederung in den Betrieb. Nicht ausschlaggebend ist hingegen, was die Parteien „auf dem Papier“ vereinbart haben, sondern was konkret gelebt wird.
Wie die oben beschriebenen Fallbeispiele zeigen, bleibt die Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit in der Praxis schwierig. Sie ist daher häufig Gegenstand von Verfahren vor den Sozialgerichten, manchmal auch den Arbeits- oder Strafgerichten. Im Grunde geht es um die Frage, inwieweit der Auftragnehmer als selbstständiger Unternehmer auftritt und wie umfangreich seine Entscheidungsfreiheit hierbei ist.
Die nachfolgende Checkliste zeigt typische Anhaltspunkte auf, die grundsätzlich für eine Abgrenzung hinzugezogen werden können. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass es immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gesamtsituation ankommt. In der Regel liegt keine Scheinselbstständigkeit vor, wenn der Auftragnehmer

  • als selbstständiger Unternehmer auftritt und handelt (z. B. eigenständige Planung und Kalkulation, freie Einteilung der Arbeitszeiten);
  • nicht in den Betrieb des Auftraggebers eingegliedert ist (z. B. eigene Büroräume, eigene Arbeitsmittel);
  • ein eigenes unternehmerisches Risiko trägt;
  • dem Auftraggeber nicht weisungsgebunden ist (z. B. freie Entscheidung über Art und Umfang der Tätigkeiten, freie Wahl des Arbeitsortes);
  • die beauftragte Tätigkeit vorher nicht als Arbeitnehmer des Auftraggebers verrichtet hat;
  • keine Tätigkeiten verrichtet, die in entsprechender Weise auch von Angestellten des Auftraggebers verrichtet werden;
  • keine arbeitnehmertypischen Regelungen mit dem Auftraggeber getroffen hat (z. B. keine Urlaubsregelung, keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, kurze Kündigungsfristen);
  • für weitere Auftragnehmer tätig ist oder sich darum bemüht (keine Ausschließlichkeitsregelung);
  • sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter beschäftigt oder Erfüllungsgehilfen zur Auftragsverrichtung einsetzt;
  • ein Haftungsrisiko für sich und seine Hilfskräfte trägt.


Ganz besondere Beachtung verdienen Fallkonstellationen, in denen der Auftragnehmer in den Betrieb des Auftraggebers eingegliedert ist oder in denen er kein oder nur ein zu vernachlässigendes wirtschaftliches Risiko trägt, z. B. weil die notwendigen Arbeitsmaterialien vom Auftraggeber gestellt werden. Hier ist das Risiko, dass Scheinselbstständigkeit sowohl von den zuständigen Sozialversicherungsstellen als auch den Strafverfolgungsbehörden angenommen wird, besonders hoch.

Rechtssicherheit erlangen

Der Gesetzgeber hat ein Instrument geschaffen, mit dem sowohl Auftraggeber als auch Auftragnehmer sich Gewissheit über ihren sozialversicherungsrechtlichen Status verschaffen können, egal ob bereits zu Beginn oder erst im Laufe des Tätigkeitsverhältnisses: das Statusfeststellungsverfahren bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund, geregelt in § 7a SGB IV. Die Formulare sind auf der Website der Deutschen Rentenversicherung Bund herunterzuladen. Entweder füllt man die Formulare als Auftraggeber bzw. Auftragnehmer selbst aus, oder man beauftragt einen Rechtsanwalt, was im Einzelfall sogar klug sein kann, da der Fragenkatalog umfangreich ist und sich teils auf einen weitreichenden, nicht auf den ersten Blick erkennbaren Hintergrund bezieht. Steuerberater sind in diesem Verfahren nicht zur Vertretung berechtigt. Innerhalb weniger Monate verfügen die Beteiligten dann über einen Bescheid, der ihnen Rechtssicherheit über den sozialversicherungsrechtlichen Status gibt, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht ändern. Verbreitet gehen die Behörden und die Sozialgerichtsbarkeit sogar von vorsätzlichem Handeln aus, wenn Auftraggeber das Statusfeststellungsverfahren nicht nutzen. Tritt die Beitragspflicht von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen normalerweise stets stets mit Beginn der Tätigkeit ein, sieht § 7a Abs. 6 SGB IV ein nicht zu unterschätzendes Privileg mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten vor: Wird das Statusfeststellungsverfahren innerhalb des ersten Monats nach Aufnahme der Tätigkeit eingeleitet, und verfügt der Auftragnehmer für den Zeitraum seiner Tätigkeit über hinreichende Altersvorsorge und Krankenversicherung, tritt mit seiner Zustimmung die Sozialversicherungsbeitragspflicht erst ab dem Zeitpunkt ein, zu dem die Versicherungspflicht per Bescheid festgestellt wird.

Rechtsansprüche der Mitarbeiter

Folgen hat die Verkennung der Rechtslage auch unter arbeitsrechtlichen Aspekten: Ist ein Tätigkeitsverhältnis in Wahrheit als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren, kann sich der Scheinselbstständige auf sämtliche arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften bis hin zu allgemeinem und Sonderkündigungsschutz berufen. Der Europäische Gerichtshof hat in einem Urteil vom 29.11.2017 sogar entschieden, dass der während der gesamten Beschäftigungsdauer entstandene Urlaubsanspruch eines Scheinselbstständigen nach Beendigung des Tätigkeitsverhältnisses zu vergüten ist. Der Fall betraf einen rund 13 Jahre in Großbritannien tätigen Scheinselbstständigen, der niemals Urlaub beantragt hatte. Diese Rechtslage gilt grundsätzlich auch in Deutschland – ob Arbeitgebern hier die regelmäßige dreijährige Verjährung weiterhilft, ist noch ungeklärt.

Foto: © Vlad Enculescu / Shutterstock.com


Schwartz, Tobias

Der Fachanwalt fur Arbeitsrecht sowie fur Handels- und Gesellschaftsrecht ist in der LKC Rechtsanwaltsgesellschaft mbH mit Sitz in Munchen-Bogenhausen tätig.
www.lkc.de