30.04.2019 Ausgabe: 3/19

Sanierung in ­Serie - Industriell gefertigte Bauteile bringen in den Niederlanden notwendige ­energetische Modernisierung und die Bezahlbarkeit von Wohnraum in Einklang.

In Deutschland soll bis 2050 nicht nur der Gebäudebestand klimaneutral werden, Wohnraum soll auch trotz der energetischen Sanierungen bezahlbar bleiben. Unter dem Namen Energiesprong (Deutsch: Energiesprung) kommt ein innovatives Sanierungskonzept aus den Niederlanden, das hier Teil der Lösung sein könnte. Wichtiger Baustein dieses Prinzips ist die serielle Sanierung mit industriell vorgefertigten Fassaden und Dächern.

In den Niederlanden wurden schon 4 500 Häuser auf diese Weise erfolgreich energetisch modernisiert. Auch in Frankreich und Großbritannien wurden erste Projekte umgesetzt. Um den Ansatz auf den deutschen Markt zu übertragen, sollen in den Jahren 2019/2020 bundesweit Prototypen mit rund 300 Wohneinheiten entstehen. Mehrere Unternehmen der Wohnungswirtschaft aus ganz Deutschland haben sich entschieden, ausgewählte Bestandsgebäude nach dem Energiesprong-Konzept zu sanieren. Rund 50 Bau- und Zulieferbetriebe ­wollen sich beteiligen.

Um den Sanierungsansatz auch in Deutschland in die Breite zu bringen, hat die Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena) das Projekt „Energiesprong Deutschland“ initiiert, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) finanziert und vom GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen unterstützt wird. Uwe Bigalke ist Bauingenieur und leitet bei der dena das Marktentwicklungsteam für Energiesprong Deutschland.

Herr Bigalke, warum brauchen wir einen neuen Ansatz für energetische Sanierungen?

Ein nahezu klimaneutraler Gebäudebestand bis 2050 ist Teil der deutschen Energie- und Klimaziele. Dafür müssen jährlich rund 1,4 bis zwei Prozent der rund 18 Millionen Wohngebäude in Deutschland energetisch modernisiert werden. In absoluten Zahlen sind das bis zu 360 000 Häuser pro Jahr und damit 1 400 Häuser pro Tag, die saniert werden müssten.

Wir sind überzeugt, dass hocheffiziente und weitgehend standardisierte Komplettsanierungen der Wärmewende einen wichtigen Schub geben können, um im bezahlbaren Segment mehr sanierten Wohnraum zu schaffen und den Sanierungsmarkt insgesamt anzukurbeln.

Die Technologien und Prozesse der Industrie 4.0 bieten viel Potenzial, das bisher bei der energetischen Gebäudesanierung noch nicht ausgeschöpft wird. Durch eine maßgeschneiderte Serienproduktion und einen digitalisierten Aufmaß- und Produktionsprozess kann energetisches Sanieren schneller, günstiger und damit für alle Beteiligten attraktiver werden. Zudem sind Fachkräfte rar. Durch mehr Vorfertigung lässt sich der Personalaufwand vor Ort senken, je Fachkraft kann mehr saniert und die Planungssicherheit erhöht werden.

Für welche Gebäudetypen eignet sich ein ­serieller Sanierungsprozess, und welche Eigentümer sprechen Sie damit an?

Für Energiesprong-Sanierungen ist zunächst die Gruppe mittelgroßer Mehrfamilienhäuser besonders geeignet. Das sind insbesondere Wohnhäuser aus den 1950er, 1960er und 1970er Jahren mit bis zu drei Etagen, verhältnismäßig einfacher Hülle und einem eher hohen Energieverbrauch von ca. 130 kWh pro Quadratmeter und Jahr.
In der aktuellen Phase der Marktentwicklung ist Energiesprong insbesondere für Eigentümer von Gebäudeserien interessant. Das können auch kleine Gebäudeserien sein, zum Beispiel fünf Mehrfamilienhäuser gleichen Bautyps.
Perspektivisch kann sich diese Art der Sanierung auch für Eigentümergemeinschaften eignen. Auch weitere Gebäudetypen können infrage kommen – also zum Beispiel Einfamilienhäuser oder Nichtwohngebäude. Gleichzeitig ist aber klar, dass dieser Ansatz vor allem für die architektonisch einfacheren und typenähnlichen Gebäude geeignet ist.

Wie muss man sich die Vorfertigung vorstellen? Gebäude sind doch individuell sehr unterschiedlich, wie ist eine serielle Vorfertigung da überhaupt möglich?

In anderen Branchen ist serielle Fertigung ja längst Realität. Ein Auto wird nicht in einer kleinen Garage zusammengeschraubt, sondern seriell produziert – und das obwohl ich beim Autohändler mein Auto mit ganz individuellen Details bestellen kann. So lassen sich Qualitätsstandards setzen, auf deren Einhaltung jedes fertige Produkt überprüft wird. Wie wir an der Energiesprong-Initiative in den Niederlanden sehen, ist das auch bei der Gebäudesanierung möglich. Die Bauteile und die Technikmodule werden in einem Gesamtkonzept optimiert und in einer Fa­brik unter Idealbedingungen gefertigt. Dieser Prozess garantiert eine gleichbleibend hohe Qualität. Zudem werden Montage und Installation vor Ort vereinfacht und Fehlerquellen reduziert.
Am Beginn der Energiesprong-Sanierung steht die Vermessung des Gebäudes mit einem dreidimensionalen Laserscan. So können schnell und kostengünstig alle relevanten Abmessungen mit großer Genauigkeit erfasst werden. Diese Daten werden dann in ein Gebäudeinformationsmodell eingespeist, das die technischen Zeichnungen erzeugt. Sie steuern eine smarte Fabrik, die die jeweiligen Fassaden- und Solar­dachelemente millimetergenau fertigt, inklusive Fenstern, Dämmung und Außenputz oder -verkleidung. Die gesamte Haustechnik, darunter Wärmepumpe, Warmwasserspeicher, Lüftungsanlage sowie die Elektronik für Photovoltaik und Monitoring, ist kompakt in einem integrierten Energiemodul untergebracht. Dabei werden die gestalterischen Anforderungen mit einbezogen. Das ist technisch kein Problem. Auf der Baustelle werden die vorgefertigten Elemente am Haus angebracht. Die alte Gas- oder Ölheizung wird durch eine effiziente Wärmepumpe ersetzt, die mit allen anlagentechnischen Komponenten in einem fertigen Modul geliefert wird.

Wie finanziert sich das Ganze?

Energiesprong steht für Sanierungen auf den NetZero-Standard. Das bedeutet, dass das Gebäude übers Jahr so viel Energie für Heizung, Warmwasser und Strom erzeugt, wie die Bewohner verbrauchen. Über die eingesparten Energiekosten, aber auch über Einsparungen bei der Instandhaltung der Gebäude werden die Sanierungskosten refinanziert.
Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit der Bau- und Immobilienwirtschaft daran, Sanierungen nach diesem Prinzip an den deutschen Markt anzupassen und erste Prototypen zu realisieren. Ziel ist es, Energiesprong-Sanierungen zu einem Preis anbieten zu können, der sie gegenüber der heutigen Standardsanierung wirtschaftlich attraktiver macht.
In dieser frühen Phase der Marktentwicklung sind die Baupreise aber noch vergleichsweise hoch. Eine Förderung ist notwendig, um diese Lösung preislich mit Standardsanierungen vergleichbar zu machen. Mittelfristig rechnen wir mit einer Kostenentwicklung ähnlich wie in den Niederlanden. Hier konnten die Kosten dieses Verfahrens nach wenigen Jahren um rund 40 Prozent gegenüber den ersten Projekten gesenkt werden.

Was sind die nächsten Schritte in Deutschland?

Rund zehn Wohnungsunternehmen sowie rund 50 Bau- und Zulieferunternehmen aus den Bereichen Generalübernehmer, Fassaden-/Dachelemente, Photovoltaik, Wärmepumpen, Lüftung und Energiemonitoring unterstützen Energiesprong bereits. Dieses und nächstes Jahr sollen bundesweit Prototypen mit rund 300 Wohneinheiten entstehen. Als Marktentwicklungsteam begleiten wir die Unternehmen in dieser Phase sehr eng und werten Erfahrungen aus, um sie auf folgende Gebäude zu übertragen, Innovationen anzustoßen und Kosten schrittweise zu senken. So schaffen wir die Grundlage für den Breitenmarkt.

Was muss passieren, damit es ein Breitenmarkt wird?

Im ersten Schritt bedeutet das, mit ersten Beispielprojekten praktisch zu zeigen, wie es funktioniert. Das wird weitere Bau- und Wohnungsunternehmen motivieren, diese Richtung einzuschlagen. Denn durch die daraus resultierenden Absatzzahlen sowie durch Erfahrungen und kontinuierliche Innovation können die Baukosten sinken.
Zudem wünschen wir uns, dass der gesamte Mieterstromprozess vereinfacht wird. Es muss für jedes Wohnungsunternehmen – auch für kleinere – wirtschaftlich und organisatorisch machbar sein, Mieterstrom anzubieten. Derzeit werden insbesondere Betreiber großer Anlagen, die einen möglichst großen Teil des Bedarfs abdecken können, benachteiligt. Und das widerspricht ja dem Energiesprong-Ansatz, den NetZero-Standard zu erreichen und möglichst die gesamte oder zumindest einen Großteil der übers Jahr benötigten Energie abdecken zu können.
Gefragt sind auch mehr innovative Ansätze: Zum Beispiel könnten integrierte Solardächer, bei denen die Photovoltaik schon Teil des Dachs ist, die Baukosten enorm senken – man spart sich einfach einen Teil des Aufbaus. Auch die in die Fassade integrierte Photovoltaikanlage könnte die Kosten senken und den NetZero-Standard für sehr große Gebäude ermöglichen. Das gibt es so aber in der Breite noch nicht, weil Wohnungsunternehmen damit Eigentümer der Anlage würden, die Einnahmen aus dem Stromverkauf erzielen. Das bedeutet für viele Wohnungsunternehmen, dass sie plötzlich für alle ihre Einnahmen – also auch die Mieten – gewerbesteuerpflichtig werden. Hier sehen wir noch Potenzial für optimierte Rahmenbedingungen.

Fotos: © Deutsche Energie-Agentur (dena); Rogier Bos/Energiesprong International


Bigalke, Uwe

Teamleiter Energiesprong Deutschland, Deutsche Energie-Agentur dena
www.energiesprong.de
Interview: Martin Kaßler