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22.04.2022 Ausgabe: 3/22
Langzeiterkrankungen oder häufige Kurzerkrankungen von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern stellen für Arbeitgeber in der Regel eine große Belastung dar, die nicht selten zu der Überlegung führt, aufgrund der hierdurch entstehenden betrieblichen Beeinträchtigungen bzw. wirtschaftlichen Belastungen eine personenbedingte Kündigung auszusprechen.
Zur Vermeidung krankheitsbedingter Entlassungen hat der Gesetzgeber im Jahr 2004 in § 167 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) IX unter der Überschrift „Prävention“ ein Verfahren geschaffen, das mittels eines (so das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 2010) rechtlich regulierten verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozesses individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung künftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll: das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM).
Insbesondere die Rechtsprechung hat aber extrem strenge Verfahrensanforderungen entwickelt, die sowohl kleinere als auch größere Unternehmen nicht selten vor enorme Herausforderungen stellen. Was ist bei der Durchführung des BEM zu beachten und welche Konsequenzen hat es, wenn dabei Fehler unterlaufen?
Voraussetzungen des BEM
§ 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX verpflichtet Arbeitgeber, ein BEM durchzuführen, wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres (nicht: Kalenderjahres) länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt sind. Dem Arbeitgeber obliegt also stets die Initiativlast zur Einleitung und Durchführung des Verfahrens. Auf die Betriebsgröße und die konkrete Gestaltung des Arbeitsverhältnisses (Teilzeit, Befristung etc.) kommt es nicht an. Das BEM ist nochmals durchzuführen, wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines BEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt waren.
Die Verortung der Vorschrift im SGB IX (dem Schwerbehindertenrecht) täuscht: Ein BEM ist unabhängig von einer Schwerbehinderung bei allen Arbeitnehmern durchzuführen, auch im Kleinbetrieb und in Betrieben ohne Betriebsrat. Das BEM darf auch nicht mit manchmal durchgeführten sogenannten Krankenrückkehrgesprächen verwechselt werden!
Die Einladung zum BEM
Vonseiten des Arbeitgebers sollte jemand aus der Belegschaft bestimmt werden, die oder der als Ansprechpartner in alle Richtungen fungiert und sich um die korrekte Durchführung des Verfahrens kümmert, sogenannte BEM-Beauftragte. Vor der „offiziellen“ Einleitung des BEM empfiehlt es sich, den Kontakt zu Betreffenden aufzunehmen, um gegebenenfalls bestehende Vorbehalte auszuräumen. Eine solche Vorbesprechung kann auch während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit stattfinden, wenn es der Gesundheitszustand erlaubt.
Die Einladung selbst sollte schon zu Dokumentationszwecken stets schriftlich erfolgen, den Nachweis des Zugangs sicherstellen und als Kopie in der Personalakte aufbewahrt werden. § 167 Abs. 2 S. 4 SGB IX bestimmt, dass Arbeitgebern im Zuge der Einladung bestimmte Hinweis-und Informationspflichten obliegen, deren Umfang und Inhalt von der Rechtsprechung weiter konkretisiert wurden. Das BEM ist fehlerhaft, wenn Hinweise nicht, nicht vollständig oder unrichtig erteilt werden.
Aufklärungspflicht des Arbeitgebers
Betroffene Beschäftigte müssen bei Darlegung der relevanten Fehlzeiten zunächst darauf hingewiesen werden, dass die Teilnahme am BEM freiwillig ist, sie – auch ohne Begründung – verweigert werden kann und eine erteilte Zustimmung jederzeit widerrufbar ist.
Stets anzugeben sind die Ziele des BEM, wobei sich die Rechtsprechung nicht mit einer bloßen Wiedergabe des Geset-zeswortlauts zufriedengibt. Betroffenen gegenüber muss vielmehr verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen ihrer Weiterbeschäftigung geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch sie selbst Vorschläge einbringen können.
Betroffene Beschäftigte sind außerdem darüber zu informieren, dass ihnen ein Wahlrecht hinsichtlich der Mitwirkung von Interessenvertretungen wie Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung zusteht und es ihre freie Entscheidung ist, ob das BEM mit oder ohne diese durchgeführt wird. Arbeitgeber müssen ferner den Betriebsarzt hinzuziehen, sofern Einzugliedernde nicht widersprechen. Hinzuweisen ist auch auf die gegebenenfalls erforderliche Hinzuziehung von Reha-Trägern bzw. des Integrationsamtes – ein Widerspruchsrecht besteht hier aber lediglich gegen die Teilnahme des Reha-Trägers.
Seit Kurzem gibt § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX Beschäftigten das Recht, zusätzlich eine Vertrauensperson ihrer Wahl hinzuziehen, worüber entsprechend zu informieren ist. Sie können frei wählen, und es kann auch ein Rechtsanwalt sein!
Schließlich ist umfassend über die im Rahmen des BEM zu erhebenden und zu verwendenden personenbezogenen Daten zu informieren. Dabei muss klargestellt werden, dass nur solche Daten erhoben werden, die für die Durchführung eines zielführenden BEM erforderlich sind. Mitgeteilt werden muss außerdem, welche Krankheitsdaten als sensible Daten im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber oder sonstigen Stellen zugänglich gemacht werden. Da die Einwilligung zur Erhebung von Gesundheitsdaten nicht bereits in der allgemeinen Zustimmung zur Durchführung des BEM enthalten ist, müssen Einzugliedernde ihre Einwilligung separat und ausdrücklich erklären.
Wer zu beteiligen ist
Das Gesetz sieht vor, dass am BEM bestimmte Personen, Stellen und Ämter als BEM-Gremium zu beteiligen sind und mit ihnen zusammen die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung zu klären ist. Dazu gehören zunächst Arbeitgeber und natürlich Betroffene selbst. Betriebsrat und/oder Schwerbehindertenvertretung sind dann zu beteiligen, wenn ihrer Mitwirkung nicht widersprochen wurde (s. o.). In vielen Fällen ist es sinnvoll, betriebsärztliche Expertise hinzuzuziehen, um zu klären, ob vom Arbeitsplatz fallbezogene gesundheitliche Gefahren ausgehen, die künftig durch geeignete Maßnahmen vermieden werden können. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, sind des Weiteren die Reha-Träger hinzuzuziehen.
Die praktische Umsetzung
Anders als bei der Einleitung des BEM sind für die Durchführung selbst weder konkrete Maßnahmen noch ein bestimmtes Verfahren vorgeschrieben. Das BEM gestaltet sich vielmehr als ein verlaufs-und ergebnisoffener Suchprozess, durch den ermittelt werden soll, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist und ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern.
Dazu ist als erster Schritt ein Gespräch vorzubereiten und zu führen, in dessen Rahmen das Krankheitsbild und die möglichen Ursachen für die Erkrankung ermittelt werden, insbesondere ob möglicherweise ein Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen besteht. Dieses Erstgespräch bietet auch die Gelegenheit zur Klärung, welche Stellen am weiteren Prozess teilnehmen sollen.
Sodann ist eine Situationsanalyse vorzunehmen, wobei alle notwendigen Informationen zusammenzutragen sind. In der darauffolgenden Fallbesprechung werden Lösungsmöglichkeiten gemeinsam erarbeitet, wobei alle am BEM Beteiligten – auch Betroffene selbst – ihnen sinnvoll erscheinende Gesichtspunkte und Maßnahmen einbringen können. Es wird eine Vereinbarung zur Umsetzung der Maßnahmen getroffen, wobei selbstverständlich mehrere Maßnahmen neben-oder nacheinander ausprobiert werden können, beispielsweise:
In angemessener Zeit nach Erprobung der Maßnahmen sollte deren Wirksamkeit untersucht werden. Das BEM ist – unabhängig vom Ergebnis – erst dann ordnungsgemäß durchgeführt, wenn sämtliche in Betracht kommenden Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.
Folgen für den Kündigungsschutzprozess
Die fehlende oder fehlerhafte Durchführung eines BEM allein führt nicht zur absoluten Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Allerdings müssen Arbeitgeber dann im Kündigungsschutzprozess darlegen und beweisen, weshalb jemand nicht auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz weiterzubeschäftigen war und dass ein BEM wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen keinesfalls zu einem positiven Ergebnis geführt hätte, insofern entbehrlich war. Dies wird nur in den seltensten Fällen gelingen – Klagen von krankheitsbedingt Gekündigten wird bei fehlendem oder fehlerhaftem BEM regelmäßig stattgegeben.
Wurde das BEM dagegen ordnungsgemäß, jedoch mit negativem Ergebnis durchgeführt, genügen Arbeitgeber ihrer Darle-gungslast, wenn sie auf diesen Umstand hinweisen und vortragen, es bestünden keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten. Dann ist es Sache der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers, im Einzelnen darzutun, dass es entgegen dem Ergebnis des BEM weitere Alternativen gäbe, die entweder dort trotz ihrer Erwähnung nicht behandelt worden seien oder sich erst nach dessen Abschluss ergeben hätten.
FAZIT
Das BEM ist ausweislich mehrerer Studien durchaus geeignet, gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte im Arbeitsleben zu unterstützen und Arbeitsplätze zu sichern. Umsetzungsprobleme bestehen weiterhin bei Klein- und Mittelbetrieben, wobei die Rechtsprechung, die bei der Auslegung der Vorschriften – insbesondere im Hinblick auf die Informationspflichten der Arbeitgeber – teils absurd strenge Maßstäbe anlegt, keine große Hilfe ist. Schon der kleinste Fehler kann dazu führen, dass das BEM als nicht ordnungsgemäß durchgeführt gilt.
TOBIAS SCHWARTZ
Fachanwalt für Arbeitsrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht, Geschäftsführer der LKC Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, München-Bogenhausen
MATTHIAS WIßMACH
Rechtsanwalt in derselben Kanzlei www.lkc-recht.de