02.09.2014 Ausgabe: 6/2014

Schritt halten

Der demographische Wandel stellt auch die Wohnungswirtschaft vor neue Herausforderungen. Neue Angebote sind gefragt. Independent Living gilt als Wachstumsmarkt.

Die Deutschen werden bekanntlich immer älter, und im Zuge der sich umkehrenden Alterspyramide ändern sich Gewohnheiten, Erwartungen und Anforderungen – nicht zuletzt, was Angebote und Dienstleistungen im Wohnumfeld betrifft. „Independent Living“ steht für ein selbstbestimmtes Leben und Wohnen im Alter. Trotz intensiver Suche nach Lösungen, die dies ermöglichen, haben bislang nur wenige Geschäftsideen den Markteintritt geschafft. Da „Independent Living“ im Grunde alle Lebensbereiche umfasst, ist das Zusammenspiel von vielen, auch sehr unterschiedlichen Akteuren notwendig, etwa Wohnungsunternehmen, Anbieter haushaltsnaher Dienstleistungen, ambulanter Pflegedienste, Banken oder Versicherungen. Grund genug, dass sich auch die Forschung mit diesem Thema befasst. Das Competence Center an der Universität St. Gallen hat eigens hierfür ein Netzwerk aus 35 Unternehmen und Organisationen unterschiedlicher Branchen, u. a. der Wohnungswirtschaft, gegründet, um gemeinsam neue Ideen und Ansätze zu entwickeln und auf ihre Umsetzbarkeit hin zu bewerten. Leiter des Projekts ist Dr. Philipp Osl, für den dieser Bereich nicht nur ein Wachstumsmarkt, sondern auch ein Hoffnungsträger vieler Branchen ist. Die Funktion des Competence Centers versteht er als Moderation des für den Erfolg notwendigen branchenübergreifenden Austauschs, aber auch als Initiator und Begleiter konkreter Umsetzungen gemeinsam mit Partnerorganisationen.

Im Interview zum Thema „Independent Living“ erklärt der Wissenschaftler, warum die industrieübergreifende Umsetzung so wichtig ist für dauerhaft tragfähige Geschäftsmodelle und welche innovativen Lösungsansätze möglich sind.

Was verstehen Sie unter „Independent ­Living“?

Es geht darum, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Da diese sehr subjektiv empfunden wird und auch die Wünsche und Präferenzen individuell verschieden sind, wird es nicht die eine Lösung geben. Aber man kann eine Infrastruktur schaffen, die es jedem erlaubt, aus der vorhandenen Angebotsvielfalt genau das Passende zusammenzustellen – und das möglichst einfach und komfortabel. Wir befassen uns dazu mit der Vernetzung bestehender Dienstleistungen, nicht mit der Entwicklung neuer Technologien. Lebensqualität hängt für ältere Menschen stark davon ab, möglichst lange selbstbestimmt in ihrer gewohnten Umgebung leben zu können.

Wo liegen die Herausforderungen?

Da „Independent Living“ im Grunde alle Lebensbereiche umfasst, ist das Zusammenspiel von vielen, auch sehr unterschiedlichen Akteuren notwendig. Viele Branchen denken zwar darüber nach, wie sie zur Lebensqualität ihrer Kunden beitragen können – sie finden aber häufig nicht zusammen, um sinnvolle Lösungen wie „aus einer Hand“ zu bieten. Es fehlen Schnittstellen, aber auch Denkweisen kommen mitunter nicht überein. Darüber hinaus bedarf es kooperativer Geschäftsmodelle, die für alle Beteiligten tragfähig sind.

Als zusätzliche Herausforderung sind spezielle Lösungen für ältere Menschen bisher nur sehr schwierig erfolgreich im Markt zu platzieren gewesen. Viele Anbieter sind daran bereits gescheitert. Die ersten Seniorenhandys mit extrem großer Tastatur sind z. B. ein Kassenflop gewesen.

Welchen Ansatz verfolgen Sie?

Es geht um Lösungen, die möglichst allen Menschen – von den „Young Professionals“ über Eltern mit oder ohne Berufstätigkeit bis hin zu älteren Menschen, die Unterstützung im Alltag brauchen, – das Leben erleichtern. Wir möchten daher den Zugang zu vorhandenen Dienstleistungsangeboten, die häufig intransparent und stark fragmentiert sind, vereinfachen – mit möglichst schlanken Prozessen, ohne Administration. Der erste Schritt ist die Zusammenführung aller Angebote auf einem Online-Marktplatz, der rund um die Uhr erreichbar ist. Dort lassen sich Termine einfach koordinieren, Leistungen z. wB. auch außerhalb der Geschäftszeiten abfragen, Bewertungen anderer Nutzer einsehen – und in weiterer Folge auch monatlich eine Rechnung über die genutzten Dienstleistungen erstellen. Dafür haben wir die Servicemanagement-Plattform www.­amiona.com entwickelt, die seit Herbst 2013 online ist.

Was kann die Wohnungswirtschaft in Deutschland tun?

Wohnungsunternehmen unterhalten im Vergleich zu Unternehmen anderer Branchen sehr lange Geschäftsbeziehungen zu ihren Kunden, den Mietern. Häufig erwächst daraus eine Vertrauensbeziehung, die dazu qualifiziert, sich auch um andere Lebensbereiche kümmern. Zudem sind Wohnungsunternehmen als Partner für in der Region tätige Dienstleister interessant, weil sie den Kontakt zu den Mietern eröffnen. Damit bekommen sie eine Art Schlüsselfunktion, um Dienstleistungen zur Steigerung der Lebensqualität zu bündeln, bzw. zentral zugänglich zu machen. Der Mehrwert für die Bewohner – die nicht nur als Mieter, sondern ganzheitlich als Menschen unterstützt werden – ist auch für die Wohnungsunternehmen von Vorteil.

Gibt es weitere konkret geplante Konzepte?

Gemeinsam mit einem Partner vor Ort bauen wir derzeit eine neue Versorgungsstruktur für die Einwohner von Weil der Stadt, nahe Stuttgart, auf. Neben den Angeboten der lokalen Dienstleister werden auch Leistungen des bürgerschaftlichen Engagements zentral über den Online-Marktplatz zugänglich gemacht – und auch telefonisch bzw. persönlich in den eigens eingerichteten Service-Stellen im Stadtzentrum. Rund 220 Dienstleistungen sind bereits gelistet. Ergänzend arbeiten wir an einer Zeitbörse, über die gegenseitige Unterstützung im Tausch organisiert wird, also Dienstleistung gegen Dienstleistung anstelle monetärer Entlohnung.

Noch im Herbst dieses Jahres starten wir mit einem Marktplatz in St. Gallen. Hauptzielgruppe werden hier beruflich stark eingespannte Personen sein, die wir durch administrative Entlastung darin unterstützen, Beruf und Privatleben besser miteinander zu vereinbaren.

Ideen-Netzwerk aus Wirtschaft und ­Wissenschaft

Das „Independent Living Netzwerk St. Gallen“ ist das Kerninstrument der angewandten Forschung im Competence Center Independent Living an der Universität St. Gallen, mit rund 35 Unternehmen und Organisationen unterschiedlicher Branchen, u. a. der Wohnungswirtschaft.

Zweimal jährlich werden in je 2-tägigen Workshops neue Ideen und Ansätze für „Independent Living“ ausgelotet, entwickelt und auf ihre Umsetzbarkeit hin bewertet.
www.il-netzwerk.com


Kontakt:
philipp.menschner@unisg.ch,
+41 71 224 3323

Interessenten für eine aktive Mitarbeit an der Vernetzung wenden sich an:
independent.living@immobilienscout24.de

Foto: © Peshkova / Shutterstock.com


Bosch, Ronald

Prokurist/Head of Sales smmove Deutschland GmbH www.smmove.de