20.10.2022 Ausgabe: 7/22

WEG-Recht: Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers nach Inkrafttreten des Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetzes

(BGH, Urteil vom 15.7.2022 – Az. V ZR 127/21)

Das Thema
Der Bundesgerichtshof (BGH) behandelt im vorliegen den Fall Fragen der Prozessführungsbefugnis sowie der Aktivlegitimation eines Wohnungseigentümers in einem Verfahren, welches zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetzes (WEMoG) anhängig war, und entwickelt seine diesbezügliche Rechtsprechung fort.

Der Fall
Die Parteien sind Mitglieder einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer in einer aus zwei Baukörpern (Haus A und B) bestehenden Anlage mit 14 Einheiten. Im Dachgeschoss beider Häuser befinden sich jeweils zwei Wohnungen, während die restlichen zehn Einheiten nicht zu Wohnzwecken dienen. In § 2 der Gemeinschaftsordnung finden sich u. a. die folgendenBestimmungen: „Wohnungen und die dazugehörigen Nebenräume dürfen nur zu Wohnzwecken benutzt werden. Die Ausübung eines Berufs oder Gewerbes in der Wohnung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verwalters. Der Verwalter kann die Zustimmung mit Auflagen verbinden. Im Übrigen kann die Zustimmung nur verweigert werden, wenn mit der Ausübung des Berufs oder Gewerbes erfahrungsgemäß eine  erhebliche Belästigung der übrigen Wohnungseigentümer/Teileigentümer oder eine erhöhte Abnutzung der im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Gebäudeteile verbunden oder zu befürchten ist. 

Die nicht für Wohnzwecke bestimmten, gewerblich nutzbaren Räume dürfen als Büro, Praxis, Apotheke, Kiosk, Laden oder für ähnliche Zwecke genutzt werden. Die Nutzungsart muss der übrigen Nutzung des Gebäudes angepasst sein und darf durch die Art ihres Betriebs andere Wohnungs-/Teileigentümer und Dritte nicht gefährden oder belästigen, sei es durch übermäßigen Lärm, Geruch, Dünste oder Unsauberkeit, oder sei es durch Einbringung gesundheitsschädigender oder gefährlicher, insbesondere explosiver Gegenstände.“

Die von der Klägerin, der Eigentümerin einer Einheit im Haus A, verklagten Eigentümer einer Teileigentumseinheit im Haus B betrieben in ihrer Teileigentumseinheit
anfangs eine Zahnarztpraxis, welche sie im Jahr 2018 zu Wohnzwecken umbauten und hierüber die Verwalterin, nicht aber die Klägerin, informierten. Seither wird die Einheit als Wohnung genutzt. Die Klägerin hat mit der im Jahr 2019 erhobenen Klage Unterlassung der Wohnnutzung verlangt. Das Amtsgericht hat die  Klage abgewiesen, das Landgericht hat ihr stattgegeben. Dagegen haben sich die Beklagten mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision gewendet. Mit der Revisionsbegründung haben sie ein Schreiben der Verwalterin eingereicht, wonach die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer der weiteren Rechtsverfolgung durch die Klägerin widerspricht. Daraufhin hat die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Die Beklagten haben der Erledigungserklärung widersprochen. Die Revision der Beklagten hat mit der Maßgabe keinen Erfolg, dass auf den Antrag der Klägerin die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache festzustellen ist. 

Nach Eintritt des erledigenden Ereignisses (Einreichung des Schreibens der Verwalterin mit dem Widerspruch der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer gegen weitere Rechtsverfolgung durch die Klägerin) und der Erledigungserklärung der Klägerin hatte der BGH zu prüfen, ob die Klage bis zu dem erledigenden Ereignis zulässig und begründet war und, wenn das der Fall ist, ob sie durch dieses Ereignis unzulässig oder unbegründet geworden ist. Sind beide Voraussetzungen erfüllt, ist die Erledigung der Hauptsache festzustellen, andernfalls ist die Klage abzuweisen. Der BGH stellt fest, dass beide Voraussetzungen gegeben sind, sodass die Hauptsache erledigt und die Revision unbegründet ist. Die Klage war bis zum Eingang der Revisionsbegründung mit dem Widerspruch der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zulässig und begründet.

Die Klage war zum einen zulässig. Den streitgegenständlichen Sachverhalt beurteilt der BGH nach dem Wohnungseigentumsgesetz (WEG) in der bis zum 30. November 2020 geltenden Fassung, da der maßgebliche Sachverhalt bereits abgeschlossen ist. Nach alter Rechtslage konnte der einzelne Wohnungseigentümer gemäß § 1004 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und § 15 Abs. 3 WEG a. F. die Unterlassung der zweckwidrigen Nutzung des Wohnungseigentums verlangen, solange der Verband diese Ansprüche nicht an sich gezogen hatte. Zwar können entsprechende Unterlassungsansprüche seit Inkrafttreten des WEMoG am 1. Dezember 2020 gemäß § 9a Abs. 2 WEG allein von der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer geltend gemacht werden. Für die bei Gericht bereits anhängigen Verfahren hat der BGH aber bereits entschieden, dass die Prozessführungsbefugnis über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird. Ein – zur Unzulässigkeit der Klage führender – Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hätte zur Folge, dass das Verfahren, selbst wenn es – wie hier – schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden war, für beide Parteien gänzlich nutzlos gewesen wäre und im Ergebnis nur erheblichen Auf- wand und Kosten verursacht hätte (vgl. hierzu auch die Besprechung BGH, Urteil vom 7.5.2021, Az. V ZR 299/19, VDIVAKTUELL 5/22, S. 50 ff.). Aus diesem Grund bestand die Prozessführungsbefugnis der Klägerin zunächst fort.

Die Klage war schließlich auch begründet, weil der Klägerin ein Anspruch gegen die Beklagten auf Unterlassung der Wohnnutzung aus § 1004 BGB zustand. Zwar hat sich die Ausübungsbefugnis für solche Ansprüche seit dem 1. Dezember 2020 gemäß § 9a Abs. 2 WEG geändert, sodass nunmehr allein die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer prozessführungsbefugt und aktivlegitimiert ist. Aber soweit die Prozessführungsbefugnis eines einzelnen Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, in Anwendung des Rechtsgedankens von § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, ist – wie der BGH ebenfalls bereits entschieden hat – auch die materiellrechtliche Aktivlegitimation weiterhin gegeben. Der Unterlassungsanspruch ist gegeben, weil die mit der Zweckbestimmung der Teileigentumseinheit unvereinbare Wohnnutzung bei typisierender Betrachtungsweise mehr stört als die vorgesehene Nutzung, sodass die Klägerin Unterlassung der Wohnnutzung gemäß § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB verlangen kann. Grundsätzlich gilt, dass sich auch eine nach dem vereinbarten Zweck ausgeschlossene Nutzung nach den Grundsätzen einer ergänzenden Vertragsauslegung als zulässig erweisen kann, wenn sie bei typisierender B etrachtungsweise nicht mehr stört als die vorgesehene Nutzung.

Die Nutzung einer Teileigentumseinheit zu Wohnzwecken kann sich demzufolge im Einzelfall als zulässig erweisen, wenn die Anlage im Übrigen nur aus Wohnungen besteht. Aber in einem nur beruflichen und gewerblichen Zwecken dienenden Gebäude stört die Wohnnutzung bei typisierender Betrachtung regelmäßig mehr als die vorgesehene Nutzung. Die Wohnnutzung einer Teileigentumseinheit in dem der gewerblichen Nutzung vorbehaltenen Gebäudeteil stört auch dann regelmäßig mehr als die vorgesehene Nutzung, wenn die Teilungserklärung einer Anlage, zu der sowohl Wohnungs- als auch Teileigentumseinheiten gehören, innerhalb eines Gebäudes eine räumliche Trennung von Wohnen und Gewerbe vorgibt. Zu beachten ist jedoch, dass die genannten Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann gelten, wenn die Teilungserklärung bzw. Gemeinschaftsordnung eine Lücke aufweist, wenn also anzunehmen ist, dass ein bestimmter Regelungsgehalt nicht in vollständiger und ausschöpfender Weise Eingang in die Teilungserklärung gefunden hat. Die Lücke wird dann nach den Regeln der ergänzenden Auslegung geschlossen, wenn sich bei der gebotenen objektiven Auslegung ein bestimmter hypothetischer Wille des teilenden Eigentümers feststellen lässt, wofür darauf abzustellen ist, welche Regelung der teilende Eigentümer bei einer angemessenen Abwägung der berührten Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise getroffen hätte, wenn er den von ihm nicht geregelten Fall bedacht hätte. Die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung wurden hier vom BGH verneint, weil die streitgegenständliche Teilungserklärung insoweit eine abschließende Regelung der erlaubten Nutzungen darstellt. Schon der Umstand, dass die Ausübung eines Gewerbes in den zu Wohnzwecken dienenden Einheiten nach der Gemeinschaftsordnung unter näher geregelten Voraussetzungen zulässig sein kann, während der umgekehrte Fall, nämlich die Nutzung einer Teileigentumseinheit zu Wohnzwecken, gerade nicht vorgesehen ist, deutet darauf hin, dass der teilende Eigentümer solche Nutzungen nicht zulassen wollte. Darüber hinaus spricht auch die räumliche Trennung von Wohn- und Gewerbeeinheiten in den Gebäuden für eine störende Eigenschaft der Wohnnutzung im konkreten Fall. Nach dem in der Teilungserklärung verankerten Konzept der Anlage soll in beiden Häusern allenfalls im Dachgeschoss gewohnt werden, während die übrigen Gebäudeteile gewerblichen Zwecken dienen. In einer solchen gemischten, aber räumlich getrennten Anlage haben sowohl die Teil- als auch die Wohnungseigentümer ein berechtigtes Interesse daran, dass die vorgegebene räumliche Trennung erhalten bleibt, um etwaige Nutzungskonflikte von vornherein zu vermeiden. Darauf kann sich die Klägerin berufen, auch wenn ihre Einheit zu Wohnzwecken dient und in dem anderen Haus belegen ist.

Nach Einreichung des Widerspruchs der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer im Sinne des § 9b WEG gegen die weitere Rechtsverfolgung durch die Klägerin ist die zuvor zulässige und begründete Klage unzulässig geworden, weil die Prozessführungsbefugnis der Klägerin – ebenso wie ihre Aktivlegitimation – entfallen ist (s. o.). Das dem Gericht überreichte Schreiben der Verwalterin enthält einen eindeutigen Widerspruch gegen die weitere Prozessführung. Zwar kommt es für das Bestehen oder Fehlen der Prozessführungsbefugnis grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung an, sodass ein erst in der Revision (keine Tatsacheninstanz) vorgelegter Widerspruch gegen die Prozessführung an sich nicht mehr zu beachten wäre. Hier ist es aber deshalb anders, weil die materiellrechtlichen Änderungen durch das WEMoG in Ermangelung von Übergangsvorschriften sofort gelten und diese Gesetzesänderung auch in der  Revisionsinstanz beachtlich ist. Durch die in der Revisionsinstanz beachtliche Gesetzesänderung wäre die Prozessführungsbefugnis ohne Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG aber ohne Weiteres entfallen. Nachdem der BGH ihren Fortbestand in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG jedoch anerkennt, muss sich im Gegenzug die andere Partei noch in der Revisionsinstanz auf einen Widerspruch der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer gemäß § 9b WEG berufen können.

Verwalterstrategie
Der Fall ist interessant, weil er viele Probleme, die im Zuge des Inkrafttretens des WEMoG, insbesondere im Zusammenhang mit bereits anhängigen Verfahren, entstanden sind, verdichtet. Der BGH hat dabei die Gelegenheit, seine bisher ergangene Rechtsprechung fortzuführen und zu bestätigen. Auf elegante Weise werden Parallelen und Probleme zwischen der Prozessführungsbefugnis und der Aktivlegitimation an der Schnittstelle zwischen altem und neuen Recht aufgezeigt und gelöst. Die schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG n. F. vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft kann, wie sich in diesem Fall zeigt, durchaus ein scharfes Schwert in anhängigem Prozess darstellen.

Piekut, Dr. Susanne Schießer & Piotr

DR. SUSANNE SCHIEßER
Die Fachanwältin für Miet- und Wohnungs­eigentumsrecht ist Salary Partner der Kanzlei Arnecke Sibeth Dabelstein, München.

PIOTR PIEKUT
Der Rechtsanwalt ist am Berliner Standort derselben Kanzlei u. a. im Miet- und Grundstücksrecht tätig. www.asd-law.com