18.05.2020 Ausgabe: vdivDIGITAL 2020

Wir müssen umdenken - Probleme lassen sich nicht mit dem gleichen Denken lösen, das sie erschaffen hat.*

Digitalisierung, Klimawandel und gesellschaftliche Umstrukturierungen sind nur drei Themen, mit denen sich die Unternehmen, die Organisationen, die Politik, die Gesellschaft, die Lehre und der Mensch in der heutigen Zeit beschäftigen müssen. Erkannte bereits Albert Einstein in seiner Aussage „The problems we are facing can't be ­solved by the same thinking that created them“*, dass Wandel zunächst immer mental passiert, so trifft diese Erkenntnis im Rahmen der digitalen Transformation stärker zu denn je. Die digitale Transformation ist im Kern eine mentale Transformation, ein Umdenken in den Chancen und Risiken des Neuen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder erwähnt, dass heutige Unternehmen und Organisationen so denken und handeln müssen, wie die Tech-Firmen im Silicon Valley. Mit neuen agilen Arbeitsweisen wie Design Thinking und mittels Künstlicher Intelligenz soll den zukünftigen Herausforderungen im Markt und in der Wirtschaft erfolgreich begegnet werden. Zu oft wird der Fokus des Wandels hierbei jedoch auf innovative Technologien und smarte Algorithmen gelegt, anstatt vom Nutzen für den Menschen auszugehen. Produktzentriertes Denken und Handeln führte schließlich zu den ökonomischen Erfolgen der weltweiten Wirtschaft. Und gäbe es nicht Apple, Google oder Amazon mit ihren differenzierten Lösungsansätzen, den Nutzer ins Zentrum der Entwicklung zu stellen – die Welt hätte sich im Zuge der Digitalisierung wesentlich linearer und nicht exponentieller und disruptiver gewandelt, als sie es heute tut. Der Paradigmenwechsel im Denken – von produkt- zu nutzerzentriertem Denken – ist das zentrale Thema für den Erfolg der oben genannten ökonomischen, ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Nur wem es gelingt, mittels innovativer Technologien und smarter Algorithmen die Probleme für Menschen effektiver, effizienter und zufriedenstellender zu lösen, der wird den Wandel in die Digitalisierung erfolgreich meistern. Diese fundamentale Denkausrichtung gilt für alle Branchen und Bereiche unseres Arbeits-, Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftslebens. Jeff Bezos, der Gründer und CEO von Amazon, hat dies im Corporate Vision Statement des Unternehmens sehr klar formuliert: „We want to be the most customer centric company in the world.“ Nutzerzentriertes Denken ist im Kern das strategische Erfolgsrezept von Amazon: Nicht Amazon Web Services oder der Amazon Marketplace, sondern deren User Experience stehen für Amazons Erfolg. Nur wer es versteht, das Internet der Dinge (IoT) und Dienste mit Nutzerzentrierung intelligent zu verschmelzen, wird in der neuen Welt erfolgreich bestehen. Die Formel „Nutzerzentriertes Denken plus IoT gleich Erfolg“ spiegelt dieses Verständnis sehr gut wider und eröffnet den mentalen Rahmen für jede Veränderung der Zukunft. Sie muss folglich die Basis jeglicher Digitalstrategie bilden. Eine „conditio sine qua non“, wie die alten Lateiner sagen würden – eine Grundvoraussetzung, ohne die nichts läuft.

Von Amazon & Co. lernen
Nun ist das mit der Nutzerzentrierung so eine Sache. Das Gros der Unternehmen und Organisationen denkt heute leider immer noch, dass sie mittels Design-Thinking-Ansätzen und Technologieoptionen für die Zukunft gut aufgestellt sind und nutzerorientierte Lösungen entwickeln können. Leider besteht ein gravierender Unterschied zwischen Nutzerorientierung und Nutzerzentrierung, und der ist von elementarer Bedeutung. Vergleichbar etwa mit dem Denken in Motor (nutzerorientiert) oder Mobilität (nutzerzentriert). Neben dem Wandel vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb stellt beispielsweise dieses Phänomen die heutige Automobilindustrie vor riesige Hürden der unternehmerischen Veränderung. Darf beim Thema „Kundenorientierung“ noch in am Kunden ausgerichteten Produkten gedacht werden, so gilt es, beim Thema „Kundenzentrierung“ in Konnektivität, Daten-Plattformen, Machine Learning und situativ relevanten Diensten zu denken. Das ist ein komplett anderes Denken – analog der Aussage Albert Einsteins zu Beginn dieses Beitrags. Nutzerzentrierung stellt einen fundamentalen Wandel für alle Bereiche unseres Lebens dar, sie ist der Schlüssel zum Erfolg in der Digitalisierung.


Nutzerzentrierung als ­wirtschaftlich-ökologisches Modell
Die Nutzerzentrierung stellt den Menschen ins Zentrum eines smarten Ökosystems. Mittels innovativer IoT-Technologien, z. B. Smartphones, Smartwatches etc., wird nunmehr versucht, möglichst nah an den Menschen und dessen Nutzungskontext zu gelangen, um in Echtzeit möglichst viele Daten von beidem erheben zu können. Je mehr strukturierte Daten das System hierbei erlangen kann, desto erfolgreicher wird das Schürfen der Informationen aus den Daten mittels Künstlicher Intelligenz sein. Der wirtschaftliche Erfolg des Systems stellt sich aber erst im nächsten Schritt ein, dem möglichst automatisierten Generieren von datenschutzkonformen, situativ-relevanten Diensten. Sie sind es, die im Kontext der Digitalisierung Google, Apple, Alibaba oder Amazon zu den weltweit erfolgreichsten Unternehmen dieser Welt haben werden lassen. Nicht für deren Technologien oder Plattformen, sondern für ihre situativ-relevanten Dienste sind wir heutzutage bereit, sekündlich enorme Summen auszugeben. Der große Nutzen hierbei resultiert aus den neuen Streaming- oder Mobilitätsdiensten, die genau wissen, wann welches Produkt, zu welchem Preis, in welcher Qualität verfügbar sein sollte – noch bevor die Nutzer es selbst wissen. Diese antizipierenden smarten Ökosystemplattformen finden wir mittlerweile in allen erdenklichen Branchen. In der Automobilwirtschaft mit autonomen Fahrzeugen, in der Finanzbranche mit Roboadvisorn, in der Medienbranche mit disruptiven Streaming-Angeboten und in der Immobilienbranche mit Lösungen wie Amazon Houses, Amazon Go oder Alibaba Bingo Box.

Echte Nutzerzentrierung ist deshalb eine so große Herausforderung, weil sie neben dem Erstellen einer hochkomplexen IoT-Infrastruktur vor allem Fachkräfte erfordert, die in dieser neuen Dimension denken können. Denn bei der Nutzerzentrierung reicht es im Gegensatz zur Nutzerorientierung nicht aus, Zielgruppen oder Personas zu bilden und diese nach deren Problemen, Interessen oder Bedürfnissen zu fragen oder zu gliedern. Vielmehr wissen die Experten der Nutzerzentrierung weit besser über einen Nutzer Bescheid, als dieser sich selbst zu kennen glaubt. Dieser auf Neudeutsch durchaus als „spooky“ zu bezeichnende Ansatz antizipiert wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und nutzt sie als elementare Basis für die Systemkonzeption.

Das Beispiel Amazon Houses
Wie so eine nutzerzentrierte Entwicklung in der Praxis abläuft, soll am Beispiel Amazon Houses einmal veranschaulicht werden: Amazon Houses basiert im Kern auf einer 3D-Strategie: Digitalisierung, Decarbonisierung (Klima- und CO2-Neutralität) und Dezentralisierung – drei Faktoren, die für den Menschen, die Gesellschaft und folglich für die Wirtschaft im Kontext der Regulatorik, wie z. B. ESG Compliance, immer relevanter werden. Amazon Houses finanziert sich hierbei aus dem Alexa Fond. Der Finanzpool zielt darauf ab, Amazons Sprachtechnologie „Alexa“ zu fördern. Im Kontext von Amazon Houses hält der Pool nun nach Beteiligungen an Unternehmen oder Start-ups Ausschau, die sich mit nachhaltigen Prefab-Technologien (Fertigbauelementen und -häusern) beschäftigen. In diese Elemente werden Amazons diverse Smart-Home-Technologien, die sich in Ladengeschäften wie „Amazon Go“ bereits erfolgreich etabliert haben, mit eingebaut. Ein Amazon House wird wie ein smartes Ökosystem gedacht und konzipiert. Das Gebäude ist komplett vernetzt und besitzt Dank des Zusammenspiels diverser Komponenten eine extrem hohe Energie- und Wasserautonomie. Das modulare Fertigbausystem erlaubt nicht nur eine effektive und effiziente Anpassung an unterschiedliche geografische Bedingungen, sondern lässt sich auch kosteneffizient vertreiben. Der eigentliche hohe wirtschaftliche Gewinn kommt durch die erweiterten Amazon Prime Home Services zustande, also die situativ-relevanten Dienste des ­Ökosystems.


Was hat dies nun alles mit Nutzerzentrierung zu tun?
Ganz einfach: Amazon beobachtet die Phänomene dieser Welt – Probleme, die die Menschen tangieren. Brandkata­strophen in Australien und Kalifornien, Wohnungsmangel und hohe Kosten für Wohnraum in Deutschland und der EU, lange Wartezeiten auf Handwerker beim Hausbau etc. Basierend auf dem Lösungsansatz von Amazon House und dem nutzerzentrierten Credo „Don't make me care – make me happy“ ist der Konzern nunmehr in der Lage, ein Grundstück z. B. nach einem Flächenbrand, einer Überschwemmung oder einem Hurrikan, innerhalb kürzester Zeit von den Trümmern zu befreien (Amazon Home Services), den Schaden mit der Versicherung abzurechnen (Amazon Insurance Services) und mit Amazon Houses ein komplett energieautonomes und mit Alexa vollvernetztes Gebäude zu einem wirtschaftlich hoch attraktiven Preis in „Echtzeit“ hinzustellen. Sollte eine Finanzierung benötigt werden, bietet Amazon Financial Services zudem die ideale Lösung. Die schnellste Lösung, zum besten Preis, mit der höchsten Convenience und einem servicebasierten Margensystem disruptiert etablierte Branchen und die Wirtschaft durch ihren nutzerzentrierten Denkansatz fundamental.

Das Internet der Dinge (IoT) macht die Welt transparenter. Es eröffnet neue Möglichkeiten, wie wir die Zukunft gestalten und die Lebensqualität täglich verbessern können. Kernelement und Fundament jeder IoT-Lösung sind neben der Netzwerkinfrastruktur geeignete Systeme, Technologien und IoT-Schnittstellen, die in den verschiedenen Anwendungsbereichen über die gesamte Wertschöpfungskette optimal eingesetzt werden müssen. Den wirtschaftlich, ökonomisch und gesellschaftlichen Erfolgsfaktor für all dies bildet jedoch das transformierte nutzerzentrierte Denken. Nur wer es versteht, sein Unternehmen, seine Mitarbeiter und sich selbst im Kern auf diese neue Denkausrichtung zu wandeln, wird die Zukunft nachhaltig erfolgreich meistern. Wer's nicht glaubt, kann sich hier überzeugen: www.youtube.com/watch?v=vxxs9JgI5VY

Foto: © CNStock / Shutterstock.com


Henseler, Prof. Wolfgang

Studiengangs­leiter Intermediales Design der Fakultät Gestaltung an der Hochschule Pforzheim