Verwalter muss Stimmen mitzählen, Minderheit muss klagen!
Im Jahr 2002 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass der Verwalter als Versammlungsleiter zu prüfen hat, ob abgegebene Einzelstimmen wegen Stimmrechtsmissbrauchs unwirksam und daher bei der Auswertung des Abstimmungsergebnisses nicht mitzuzählen sind. Jetzt präzisierte er seine frühere Entscheidung und entschied, dass kein solcher Fall vorliegt, wenn ein Mehrheitseigentümer aufgrund seines Stimmgewichts nötige Beschlüsse blockiert, also Negativbeschlüsse erzwingt.
Mit Urteil vom 14. Juli 2017 zum gerichtlichen Aktenzeichen V ZR 290/16 beschäftigte sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit Problemen des Stimmrechts und der rechtlichen Prüfungskompetenz des Versammlungsleiters: Entsteht bei Geltung des Kopfstimmrechts ein weiteres Stimmrecht, wenn ein Wohnungseigentümer, dem mehrere Einheiten gehören, eine davon auf eine von ihm beherrschte juristische Person überträgt? Kommt ein Stimmrechtsverbot oder Stimmrechtsmissbrauch infrage, wenn der Mehrheitseigentümer Beschlüsse über die Genehmigung der Jahresabrechnung, die Verwalterbestellung oder eine sofort erforderliche Instandsetzungsmaßnahme blockiert darf der Verwalter also seiner rechtlichen Würdigung nach treuwidrig abgegebene Nein-Stimmen als unwirksam bewerten und statt einer Ablehnung die Annahme des Beschlussantrags verkünden?
Der Fall
Eine WEG besteht aus vier Wohnungen. Regelungen zum Stimmrecht enthält die Teilungserklärung nicht, so dass das gesetzliche Kopfstimmrecht gilt. Ursprünglich standen die Wohnungen Nr. 3 und Nr. 4 im Eigentum des Klägers, bis er die Wohnung Nr. 4 an die S. UG & Co. KG übertrug. Komplementärin der S. UG & Co. KG ist die I. Unternehmergesellschaft UG (haftungsbeschränkt), deren alleiniger Gesellschaft und Geschäftsführer der Kläger ist. Ferner ist er Kommanditist und Geschäftsführer der S. UG & Co. KG (im Folgenden: Gesellschaft). Der Kläger und die von ihm beherrschte Gesellschaft leisten seit langem keine Hausgeldzahlungen mehr. Zu Beginn der Eigentümerversammlung vom 04.11.2015 wurde mit den auf die Wohnungen Nr. 1 und Nr. 2 entfallenden Stimmen beschlossen, dass die S. UG & Co. KG vom Stimmrecht ausgeschlossen sei. Danach wurde über die Genehmigung der Jahresabrechnung (TOP 3) und die Verwalterbestellung (TOP 4) abgestimmt. Kläger und Gesellschaft stimmten gegen die Beschlussanträge, die zwei anderen Eigentümer dafür. Der Verwalter als Versammlungsleiter zählte die Stimme der Gesellschaft nicht mit und verkündete bei 2 Ja-Stimmen und 1 Nein-Stimme die Annahme des Beschlussantrags zu TOP 3 und TOP 4, da der Kläger und seine Gesellschaft als ein Kopf anzusehen seien. Die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage wiesen das Amtsgericht Goslar in der ersten Instanz und das Landgericht Braunschweig in der Berufungsinstanz ab. Anschließend landete der Fall beim BGH.
Die Entscheidung
Der BGH kassiert AG und LG und erklärt die beiden angefochtenen Beschlüsse für ungültig. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen stehe der Gesellschaft ein Stimmrecht zu, denn auch unter der Geltung des Kopfstimmrechts trete eine nachträgliche Vermehrung von Stimmrechten ein, wenn ein Eigentümer wie hier mehrere Einheiten halte und diese sukzessive veräußere. Mithin gäbe es in der WEG vier Stimmen. Eine andere Frage sei, ob die Stimme des Klägers oder der von ihm beherrschten Gesellschaft einem Stimmrechtsverbot unterläge oder wegen Stimmrechtsmissbrauches nicht mitgezählt werden dürfe. Beides verneint der BGH. Ein Stimmrechtsverbot (allgemeiner Stimmrechtsausschluss) sei zu verneinen. Die drei gesetzlichen Stimmrechtsverbote gemäß § 25 Abs. 5 WEG seien hier nicht einschlägig und überdies eng auszulegen. Die Tatsache, dass Kläger und Gesellschaft seit Jahren keine Hausgeldzahlungen mehr leisteten und durch die Veräußerung der Wohnung Nr. 4 eine Blockadeposition entstanden sei, rechtfertige keine andere Würdigung. Die übrigen Wohnungseigentümer müssten so der BGH (Rn. 10 des Urteils) die ihnen eingeräumten Rechtsschutzmöglichkeiten ergreifen.
Auch ein Stimmrechtsmissbrauch der abgegebenen Nein-Stimmen sei zu verneinen. Ein Stimmrechtsmissbrauch dürfe nur ausnahmsweise und unter sehr engen Voraussetzungen bejaht werden; es reiche nicht aus, dass ein Mehrheitseigentümer mit seinem Stimmgewicht blockiere, obwohl es ein Gebot ordnungsmäßiger Verwaltung wäre, einen positiven Beschluss zu fassen statt diesen zu verhindern. Vielmehr müsse die Art und Weise der Stimmrechtsausübung die übrigen Wohnungseigentümer so offenkundig und ohne jeden Zweifel in treuwidriger Weise benachteiligen, dass der Ausgang eines gerichtlichen Verfahrens nicht abgewartet werden könne; dies komme in aller Regel nur bei positiven Stimmabgaben in Betracht, die dazu führen, dass Beschlussanträge angenommen werden, etwa dann, wenn ein Mehrheitseigentümer gegen die Stimmen der Minderheit eine wegen gravierender Vermögensdelikte vorbestrafte Person aufgrund seiner persönlichen Nähe zu ihm zum Verwalter bestelle oder wenn mit seinen Stimmen ein Beschluss gefasst werde, der diesem offensichtlich unangemessene Vorteile verschaffe (Rn. 17). Dagegen sei die Abgabe von Nein-Stimmen, die einen Negativbeschluss herbeiführten, grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich, selbst wenn eine treuwidrige Blockadehaltung gegeben sei. Hier sei von der Minderheit zu erwarten, gerichtliche Schritte einzuleiten, ggf. auch durch einen Antrag auf einstweilige Verfügung (Rn. 20). Dies gelte bspw. auch dann, wenn über eine sofort erforderliche Instandsetzungsmaßnahme abgestimmt werde, um unbewohnbares Sondereigentum wieder nutzbar zu machen; auch hier müsse die Minderheit zu Gericht gehen, wobei die Schadensersatzhaftung desjenigen, der nicht mit Ja stimmte, davon unberührt bliebe (insoweit Hinweis auf BGH 17.10.2014 IV ZR 9/14).
Daran gemessen sei die Stimmabgabe der Gesellschaft im vorliegenden Fall nicht rechtsmissbräuchlich gewesen.
Fazit für Rechtsanwälte
Am Tenor fällt auf, dass die angefochtenen Beschlüsse für ungültig erklärt wurden. Legt man die Ausführungen des BGH zugrunde, wäre eine Beschlussergebniskorrektur zu erwarten gewesen, und zwar mit dem Tenor festzustellen, dass die Beschlussanträge abgelehnt sind. Den 2 Ja-Stimmen standen laut BGH 2 wirksame Nein-Stimmen gegenüber. Stimmenpatt führt zur Ablehnung des Beschlussantrages. Möglicherweise haben der Kläger und seine Rechtsanwälte eine Ungültigerklärung beantragt, nicht aber eine Feststellung des zutreffenden Beschlussergebnisses. Eine Beschlussergebnisberichtigungsklage wäre ebenfalls fristgebunden gewesen.
Der BGH sieht den Fehler des Verwalters (Nichtberücksichtigung einer von ihm zu Unrecht als unwirksam gewerteten Einzelstimme) als formellen Beschlussmangel an (Rn. 22), nicht als materiellen.
Fazit für den Verwalter
Verwalter müssen den Unterschied zwischen Stimmrechtsverbot und Stimmrechtsmissbrauch kennen. Ein Stimmrechtsverbot richtet sich nach § 25 Abs. 5 WEG und führt dazu, dass ein Eigentümer gar nicht an der Abstimmung beteiligt werden darf. Stimmrechtsmissbrauch bedeutet, dass eine Beteiligung an der Abstimmung erfolgt, jedoch bei rechtsmissbräuchlicher Stimmabgabe die abgegebene Stimme nicht mitgezählt, sondern aussortiert wird.
Wegen der elementaren Bedeutung des Stimmrechts (Kernbereich des Mitgliedschaftsrechts) können Hausgeldrückstände nicht zu einem Stimmrechtsverbot des Schuldners führen, selbst dann nicht, wenn dies in der Gemeinschaftsordnung vereinbart sein sollte. Eine solche Vereinbarung ist unwirksam. Der hier gefasste Beschluss über den Stimmrechtsausschluss dürfte obwohl der BGH dies nicht thematisiert nichtig sein. Der Verwalter hätte ihn der Versammlung erst gar nicht fassen lassen sollen.
Eine Majorisierung der Minderheit durch einen Mehrfach- oder Mehrheitseigentümer ist in erster Linie im Objektprinzip (Abstimmung nach Einheiten) oder im Wertprinzip (Abstimmung nach dem Verhältnis der Miteigentumsanteile) angelegt, das abweichend von der gesetzlichen Grundregel (Kopfprinzip) in der Gemeinschaftsordnung vereinbart werden kann. Der vorliegende Fall zeigt jedoch, dass bzw. wie unter der Geltung des Kopfprinzips die Majorisierung durch eine einzelne Person möglich ist. Die Majorisierung als solche ist aber niemals rechtsmissbräuchlich. Vielmehr müssen weitere, besondere Umstände hinzutreten.
Auch wenn es nicht überzeugt, dass laut BGH ein Stimmrechtsmissbrauch zur Voraussetzung haben soll, dass ein Mehrheitseigentümer mit seiner positiven Stimmabgabe (Ja-Stimmen) positive Beschlussergebnisse erzwingt, ist für die Verwalterpraxis durch das Urteil geklärt, dass die zumeist schwierige rechtliche Prüfung und Bewertung der Rechtswirksamkeit einer abgegebenen Einzelstimme nicht dem Verwalter obliegt, sondern dem WEG-Gericht. Selbst dort also, wo Mehrheitseigentümer ihr Stimmgewicht keineswegs dazu einsetzen, positive Beschlüsse herbeizuführen, sondern im Gegenteil dazu, positive Beschlüsse über Jahresabrechnungen, Wirtschaftspläne oder Sonderumlagen zu verhindern und eigene Zahlungsverpflichtungen zu blockieren, müssen sich Verwalter aufgrund des vorliegenden Urteils davor hüten, Nein-Stimmen nicht zu zählen und stattdessen die Annahme des Beschlussantrags zu verkünden. Der BGH will, dass die Minderheit zu Gericht geht und dort ggf. mit einstweiligem Rechtsschutz die notwendigen Beschlüsse ersetzen lässt, damit eine volljuristische rechtliche Prüfung des Einzelfalls durch ein unabhängiges staatliches Gericht erfolgt. Die Kritik am BGH setzt daran an, dass vom Mehrheitseigentümer blockierte Beschlüsse über Jahresabrechnung (mit Nachzahlung), Wirtschaftsplan oder Sonderumlage diesem doch gerade offensichtlich unangemessene Vorteile verschaffen (im Sinne der Rn. 17), nämlich einen erheblichen Zahlungsaufschub.
Ist die Gemeinschaftskasse (annähernd) leer und blockiert ein Mehrheitseigentümer notwendige Finanzierungsbeschlüsse, ist eine Beschlussersetzungsklage gemäß § 21 Abs. 8 WEG auf gerichtliche Inkraftsetzung einer Jahresabrechnung oder eines Wirtschaftsplanes streitanfällig und nur mit erheblicher Verzögerung zu gewinnen. Stattdessen sollte man bei Gericht einen Sonderumlagebeschluss erstreiten, der auf die zwingend erforderlichen Mittel begrenzt ist, um die sofort erforderlichen Ausgaben aus dem Verwaltungsvermögen tätigen zu können. Die tatbestandlichen Voraussetzungen werden sich seitens der Kläger für gewöhnlich leichter darlegen und beweisen und im einstweiligen Verfügungsverfahren glaubhaft machen lassen.
Dr. Jan-Hendrik SchmidtW·I·R Breiholdt Nierhaus SchmidtRechtsanwälte PartmbB Hamburgwww.wir-breiholdt.de