Dieses Urteil wurde mit Spannung erwartet. Wollte der Gesetzgeber mit Inkrafttreten des neuen WEG am 1.12.2020 (WEMoG) dem Einzelkläger seine nach altem Recht bestehende Prozessführungsbefugnis wirklich einfach so „weggrätschen“? Oder würde dies über das Ziel hinausschießen? Der Bundesgerichtshof (BGH) sieht eine planwidrige Gesetzeslücke im Übergangsrecht und schließt sie mit einer Analogie zugunsten des Klägers. Dieser kann und darf zu Ende prozessieren, solange die Gemeinschaft weiterhin die Füße stillhält.
Mit Urteil vom 7.5.2021 zum gerichtlichen Aktenzeichen V ZR 299/19 hat der BGH entschieden, dass in bereits vor dem 1.12.2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte (hier: Beseitigung gemäß § 1004 Abs. 1 BGB) geltend macht, in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG nF (neue Fassung) fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z. B. Verwalter) über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft zur Kenntnis gebracht wird. Bislang liegt nur die Mitteilung der Pressestelle des BGH vor. Schon darin finden sich interessante Ausführungen mit hoher Praxisrelevanz. Die vollständige Urteilsbegründung wird in den kommenden Wochen folgen und möglicherweise Gegenstand eines weiteren Beitrags sein.
Der Fall
Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Baden-Württemberg. Das eine Grundstück steht im Eigentum des Klägers und einer weiteren Person, die zusammen eine Wohnungseigentümergemeinschaft bilden. Ihr Grundstück grenzt in dem Bereich des Gartens, an welchem dem weiteren Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht zusteht, unmittelbar an das Grundstück der Beklagten. 2011 pflanzten die Beklagten auf ihrem Grundstück entlang dieser Grenze vier Zypressen mit einem Grenzabstand von unter vier Metern. Der Kläger verlangt deren Beseitigung gemäß § 1004 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 16 Abs. 1 Nr. 4 Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg (NRG BW), hilfsweise den Rückschnitt der Bäume auf eine Höhe von maximal 3,5 Metern.
Das Amtsgericht Mannheim hat der Klage im März 2019 im Hauptantrag stattgegeben. Das Landgericht Mannheim hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 22.11.2019 zurückgewiesen. Mit der Revision möchten die Beklagten die Abweisung der Klage erreichen. Sie berufen sich darauf, dass der Kläger seine Prozessführungsbefugnis am 1.12.2020 „über Nacht“ nachträglich verloren habe, weil die Ausübungsbefugnis für Abwehransprüche aus dem gemeinschaftlichen Eigentum seitdem allein und ausschließlich der Gemeinschaft zugeordnet sei, nicht mehr den einzelnen Wohnungseigentümern
Die Entscheidung
Der BGH bestätigt die Vorinstanzen. Der Kläger als einer der beiden Wohnungseigentümer der Zweiergemeinschaft sei weiterhin prozessführungsbefugt, da ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft nicht belegt sei. Zu Recht habe daher das Berufungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Beseitigung der Zypressen bejaht, den dieser allein und ohne Beschluss der Gemeinschaft oder individuelle Zustimmung des zweiten Wohnungseigentümers (und Sondernutzungsberechtigten an der Gartenfläche) geltend machen durfte.
Der Fall sei nach der Überleitungsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG zu beurteilen, der indessen für die vorliegende Fallkonstellation eine planwidrige, vom Gesetzgeber also nicht gesehene, Regelungslücke aufweise. Gemäß § 48 Abs. 5 WEG seien für die bereits vor dem 1.12.2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Vorschriften des dritten Teils des WEG, also des Verfahrensrechts (§§ 43 ff. WEG), in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden. Hierzu heißt es in der Gesetzesbegründung, dass die Änderungen des Verfahrensrechts im WEMoG anhängige Gerichtsverfahren unberührt lassen sollen mit der Folge, dass Altverfahren, die am 1.12.2020 bereits bei Gericht anhängig sind, nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften (§§ 43 ff. WEG aF) zu Ende zu führen seien (Bundestags-Drucksache 19/8791, Seite 86 noch zu § 48 Abs. 4 WEG-Entwurf, jetzt Abs. 5).
Die Regelungslücke ergäbe sich offenbar daraus, dass der neue § 9a Abs. 2 WEG, der die Ausübungsbefugnis jetzt der Gemeinschaft zuordnet, nicht zum Verfahrensrecht gehört, sondern in den materiellen Vorschriften des ersten Teils (§§ 1-30 WEG) zu finden ist. Diese Regelungslücke hätte der Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, mit einer Regelung geschlossen, die sich – so der BGH – an der Vorschrift des § 48 Abs. 5 WEG orientiert, zugleich aber auch den verfahrensrechtlichen Charakter von § 9a Abs. 2 WEG einbezogen hätte, was im Ergebnis dazu führen müsse, dass die Prozessführungsbefugnis eines einzelnen Wohnungseigentümers nicht schon durch das bloße Inkrafttreten der Neuregelung entfallen dürfe. Der Gesetzgeber könne nicht gewollt haben, dass ein Gerichtsverfahren, selbst wenn es – wie im vorliegenden Fall – schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden sei, für beide Parteien gänzlich nutzlos würde und im Ergebnis nur erheblichen Aufwand und Kosten verursacht hätte.
Die Gemeinschaft habe die gerichtliche Rechtsverfolgung vor dem 1.12.2020 nicht durch einen Beschluss an sich gezogen. Daher müsse nunmehr davon ausgegangen werden, dass sie sich weiterhin nicht in den für sie fremden Prozess eines Wohnungseigentümers einmischen wolle. Solange dem Gericht ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft aber nicht zur Kenntnis gebracht werde, bestehe daher für ein Altverfahren die individuelle Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers fort. Ein solcher entgegenstehender Wille der Gemeinschaft müsse dem Gericht laut BGH in Gestalt einer schriftlichen Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs (z. B. Verwalter) zur Kenntnis gebracht werden.
Fazit für den Verwalter
Individuelle Störungsabwehrklagen einzelner Wohnungseigentümer gegen Nachbarn oder auch innerhalb der Gemeinschaft sind durch das WEMoG nicht ausgebremst. Zwar liegt die Ausübungsbefugnis seit dem 1.12.2020 kraft Gesetzes bei der Gemeinschaft. Diese muss sich aber nicht in den laufenden Prozess einmischen. Dies gilt umso mehr, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein Individualprozess bereits seit Jahren erfolgreich läuft und der klagende Wohnungseigentümer auf der Siegerstraße ist. Das Prozesskostenrisiko trägt er, nicht die Gemeinschaft und auch nicht der Miteigentümer.
Solange andere Wohnungseigentümer kein gemeinschaftliches Einschreiten fordern, ist der Verwalter nicht gehalten, von Amts wegen die Thematik in die Versammlung zu bringen. Bei Altverfahren zwischen zwei Wohnungseigentümern könnte es sein, dass der Beklagte nunmehr aus taktischen Gründen versucht, unter den übrigen Miteigentümern jemand zu finden, der bereit ist, die Gemeinschaft als Klagepartei ins Spiel zu bringen, um die Individualklage unzulässig zu machen. Trifft ein solcher Tagesordnungswunsch beim Verwalter ein, wird dieser sorgfältig prüfen müssen, ob er die Versammlung einberuft, um darüber abstimmen zu lassen. Die Prozessparteien, jedenfalls der Beklagte dürfte einem gesetzlichen Stimmverbot (§ 25 Abs. 4 WEG) unterliegen.
Der BGH nennt den Verwalter nur beispielhaft („z. B.“) als vertretungsberechtigtes Organ im Sinne von § 9b WEG. Es ist abzuwarten, ob die Urteilsbegründung nähere Angaben zur organschaftlichen Vertretung der Gemeinschaft vor Gericht enthalten wird. Einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft kann letztendlich nur die Eigentümerversammlung bzw. Gesamtheit der Wohnungseigentümer bilden, also weder der Verwalter noch ein Verwaltungsbeirat bzw. dessen Vorsitzender. Im vorliegenden Fall wird kein Verwalter bestellt gewesen sein, da es sich um eine Zweiergemeinschaft handelt. Die Gemeinschaft wurde folglich seit dem 1.12.2020 gerichtlich und außergerichtlich durch die zwei Wohnungseigentümer gemeinschaftlich vertreten (§ 9b Abs. 1 Satz 1 und 2 WEG). Ob ein Schreiben des anderen Wohnungseigentümers an das Gericht ausgereicht hätte, um die Klage unzulässig zu machen, musste nicht entschieden werden. Hätte der andere Wohnungseigentümer in einem solchen Schriftstück als einer von zwei organschaftlichen Gesamtvertretern seinen Willen bekundet, dass die Gemeinschaft für den Kläger den Prozess gegen die Nachbarn übernimmt, hätte darüber ein Beschluss herbeigeführt werden müssen. Hätte der Kläger dagegen gestimmt, hätte diese Frage womöglich in einer Beschlussklage geklärt werden müssen. Gefreut hätten sich womöglich bis auf weiteres die verklagten Nachbarn.
Fazit für Wohnungseigentümer oder Verwaltungsbeiräte
Will die Gemeinschaft einen laufenden Störungsabwehrprozess, z. B. auf Unterlassung einer zweckbestimmungswidrigen oder sonst störenden Nutzung oder auf Beseitigung/Rückbau einer baulichen Veränderung, übernehmen, entspricht es in der Regel ordnungsmäßiger Verwaltung, den bislang prozessierenden Kläger von den ihm entstandenen Prozesskosten freizustellen. In Betracht kommt auch, ihn dazu zu ermächtigen, seinen Prozess in gewillkürter Prozessstandschaft zu Ende zu führen. Grundsätzlich wird es auf beiden Seiten (Kläger und Gemeinschaft) hierfür berechtigte Interessen geben.
Will der klagende Wohnungseigentümer sich seine Prozessführungsbefugnis nicht nehmen lassen, wird er ihm nachteilige Beschlüsse gegebenenfalls mit der Anfechtungsklage und im einstweiligen Rechtsschutz bekämpfen müssen. Es kann im Einzelfall ordnungsmäßiger Verwaltung widersprechen, einem auf der Siegerstraße befindlichen Kläger nach Jahren den Prozess kurz vor dem Ziel zu vermasseln. Unter Umständen ist das Ermessen der Mehrheit dahin reduziert, die Prozessführung des Klägers zu genehmigen.
Fazit für die Gemeinschaft
Im vorliegenden Fall einer verwalterlosen Zweiergemeinschaft hatte sich der Miteigentümer des Klägers offenbar nicht um die gemeinschaftlichen Belange gekümmert, was insofern verwunderlich ist, als die Zypressen seine Gartensondernutzungsfläche beeinträchtigten, von deren Mitgebrauch der Kläger ausgeschlossen ist. Auch in größeren Gemeinschaften kam es auf bisherigen Gesetzeslage nicht selten vor, dass die Gemeinschaft die Verfolgung von Störungsabwehransprüchen bezüglich des gemeinschaftlichen Eigentums nicht an sich zog, sondern einzelne Wohnungseigentümer, die sich möglicherweise besonders gestört sahen, gewähren ließ. Solchen Individualklagen war dann mangels Vergemeinschaftungsbeschluss (§ 10 Abs. 6 Satz 3 WEG aF) der Weg nicht versperrt.
Anders verhält es sich bei der Verfolgung von Mängelansprüchen gegen Bauträger, wenn die Gemeinschaft vor dem 1.12.2020 per Beschluss den Willen gebildet hat, die Rechtsverfolgung anstelle der einzelnen Erwerber zu übernehmen, häufig auch vor Gericht. Mit dieser praxisrelevanten Fallkonstellation hat sich das vorliegende Urteil nicht zu befassen. Nach der Gesetzesbegründung soll die bisherige Rechtsprechung zum Bauträgervertragsrecht, wonach die Gemeinschaft die außergerichtliche und gerichtliche Verfolgung bestimmter Mängelrechte aus den Erwerberverträgen an sich ziehen und gemeinschaftlich ausüben kann, vom WEMoG unberührt bleiben (BT-Drucks. 19/18791, Seite 47). Es bleibt abzuwarten und für die Praxis zu hoffen, dass der für das WEG zuständige V. Zivilsenat oder der für das Bauträgerrecht zuständige VII. Zivilsenat des BGH diese Steilvorlage des Gesetzgebers aufgreift und an der bisherigen Rechtslage nichts ändert.
Wie wäre es nach dem neuen WEG 2020 (WEMoG)?
Hätte der Kläger seine Klage nach dem 30.11.2020 bei Gericht eingereicht, wäre sie unzulässig. Wohnungseigentümern fehlt in Bezug auf das gemeinschaftliche Eigentum und dessen Schutz vor Störungen die Prozessführungsbefugnis. Die Ausübungsbefugnis liegt bei der Gemeinschaft (§ 9a Abs. 2 WEG). Will der Einzelne klagen, muss er sich seitens der Gemeinschaft die Prozessführungsbefugnis zuweisen lassen, also durch einen Mehrheitsbeschluss.
Geht es nicht um Störungen seitens eines Nachbarn oder sonstigen Dritten, sondern um Beeinträchtigungen durch Miteigentümer innerhalb der Gemeinschaft, sind individuelle Klagen dann zulässig, wenn sich der Abwehranspruch nicht ausschließlich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum, sondern zumindest auch aus dem Sondereigentum ergibt, wie z.B. bei Trittschallbeeinträchtigungen oder Geruchsemissionen in den eigenen vier Wänden (Sondereigentum). Hier ist und bleibt der Sondereigentümer Rechtsinhaber und als solcher allein zur außergerichtlichen und gerichtlichen Rechtsverfolgung berechtigt, ohne dass die Gemeinschaft ihm dies streitig machen kann. Entsprechende Versuche durch Beschluss wäre mangels Beschlusskompetenz nichtig. Die Verwaltungshoheit des Sondereigentümers über sein Sondereigentum ist insoweit mehrheitsfest. Andererseits ist es denkbar, dass der Sondereigentümer die Gemeinschaft zur Prozessführung ermächtigt, etwa dann, wenn zusätzlich Ansprüche aus dem gemeinschaftlichen Eigentum zu verfolgen sind, die der gesetzlichen Ausübungsbefugnis der Gemeinschaft unterliegen.
Dr. Jan-Hendrik Schmidt
W·I·R Breiholdt Nierhaus Schmidt
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte PartG mbB Hamburg
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